19 | Die gierige Menschheit |

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29.09.2019 Lilas fantastisches Tagebuch

„Was machst du?", fragte der Brite unbeeindruckt, nachdem ich erschrocken aufgeschrien hatte.

„Ich packe meine Sachen.", antwortete ich ganz ehrlich und warf genug Klamotten für vier Tage in meinen Rucksack.

„Ist das dein Ernst?!
Du kannst nicht abhauen, wo willst du hin?"
Nathaniel stand augenblicklich auf und stellte sich unmittelbar vor mich.

Ich hätte ihm vielleicht vorher sagen sollen, dass ich bloß für ein paar Tage zu meiner Schwester gehen würde, aber dann hätte ich das Folgende verpasst.

„Ich kann dich nicht gehen lassen.
Du kannst nicht gehen!"

Nein, das war nicht meine Fantasie, es war kein Traum.
Nathaniel Brown hatte das zu einhundert Prozent zu mir gesagt.
Direkt in mein Gesicht.

Dafür dass er immer abhaute, wenn irgendwas zwischen uns passierte, wollte er nun anscheinend um jeden Preis, dass wir uns nah blieben.
Oder nicht?

Eine Weile lang sah ich den Briten an und ließ meinen Rucksack auf den Boden gleiten, als mir auffiel, dass wir nach wie vor nicht richtig über den Kuss geredet haben.

„Ich übernachte bloß bei meiner Schwester.", klärte ich nun endlich lachend auf, woraufhin mich der Brite entgeistert ansah.

„Spinnst du?!", rief er auf einmal, als er wieder zur Besinnung kam.

„Ich dachte du wolltest das Land verlassen!"

Lachend schüttelte ich den Kopf, schloss meinen Rucksack und blickte anschließend seufzend zu dem Briten hinauf.

„Wieso gehst du?
Ist es wegen mir?", fragte er ernst und verschränkte die Arme vor der Brust, woraufhin ich leicht schmunzeln musste.

„So wichtig bist du nun auch wieder nicht.", murmelte ich lügend und sah anschließend von der Tür wieder auf in seine Augen.

Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte das Gefühl, dass er wusste, dass ich log, denn er seufzte einmal und trat anschließend zur Seite, damit ich gehen konnte.

Irgendwie drehte sich wieder alles in mir, meine Entschlossenheit eingeschlossen.

Ich war mir auf einmal wieder unsicher, ob ich nicht einfach dableiben und alles jetzt klären sollte.
Ich wollte bei diesem Menschen sein, Zeit mit ihm verbringen und ihn besser kennenlernen, doch ich wusste genau, wenn ich keine Pause von all dem Stress nehmen würde, würde ich früher oder später einen Nervenzusammenbruch haben.

Außerdem hatte ich keine Ahnung, wann er das nächste Mal wieder einfach abhauen würde, wenn ich ihn gerade bei mir brauchte.

Das war gruselig.
Ich hörte mich so an, als hätte ich mich bereits an seine Präsenz in meinem Leben gewöhnt hatte und davor hatte ich wirklich Angst.
Ich wollte mich an niemandem gewöhnen, denn eine Eigenschaft, die alle Menschen teilten ist die, irgendwann zu gehen.

„An was denkst du nur immer?", flüsterte Nathaniel, der nach wie vor vor mir stand und auf mich hinunter sah.
Er war noch nicht abgehauen.
Wow.

„Ich denke an alles.
Und irgendwie denke ich an nichts.
Ich denke und überlege und träume und wünsche.
Ich denke an das, was ich mir wünsche, an das was ich nicht habe.
Ist das nicht verrückt?
Es ist verrückt und irgendwie ist es normal, denn schließlich tut das jeder, oder?
Wir denken alle an die Dinge, die wir nicht haben aber wollen und vergessen dabei, was wir bereits haben, weil wir gierig sind.
Ich bin genauso gierig, ich will immer mehr.
Ich will immer mehr, als ich haben kann.", erklärte ich traurig und war bereits kurz davor zu weinen, denn ich war gerade zu einhundert Prozent ehrlich und sprach einfach das aus, was in mir los war, was gerade in meinen Kopf abging, ohne zu überlegen, ohne nachzudenken, was ich sagen sollte.

Ok. Ich war nicht kurz davor zu weinen, ich weinte bereits.
Eine Träne rollte meine Wange hinunter.
Und noch eine und noch eine, bis sie alle auf den Boden tropften.

Ich war so erledigt, so müde und meine Gedanken brachten mich beinahe um, denn sie waren so verstreut und einfach überall.

Ich war so hin- und hergerissen.
Ich wollte Nate. Ich wollte ihn bei mir, trotzdem wollte ich auch Mason.
Seht ihr's?
Ich wollte immer mehr, als ich haben konnte.
Ich wollte Mason sicherlich nicht als Freund, aber ich konnte nicht ohne ihn.
Ich konnte ihm nicht wehtun.

Ich wünschte, ich könnte Nate das alles sagen, aber dann würde ich ihm stecken müssen, dass ich Gefühle für ihn hatte und das konnte ich einfach nicht.

Nicht, dass es mir peinlich war, aber ich hatte einfach Angst.
Ich hatte Angst vor Zurückweisung, vor seiner Reaktion und ich hatte Angst vor der Liebe generell.

Ich meine, gehen wir von dem äußerst unwahrscheinlichen Fall vor, dass er mit mir zusammen sein wollte.
Was wäre, wenn ich ihm später nicht mehr genug sein würde und er dasselbe tun würde, wie Mason?
Waren alle Jungs so?
Oder war ich von Grund auf einfach nicht genug an Person.
War ich zu Lückenhaft?
Fehlte mir so viel?

Während diese Selbstzweifel in mir stiegen, hatte Nate noch nicht geantwortet, aber er schien zumindest nachzudenken.
Ein Fortschritt.

„Du hast Recht, Lila.", meinte der Brite schließlich.

„Du hast Recht.
Wir sind gierig.
Wir wollen immer das, was wir nicht haben können und wir sind so gut wie nie zufrieden, zumindest nicht überall.
Du bist garantiert nicht die einzige, die so ist.
Auch ich will Dinge, die ich nicht haben kann.
Nicht, weil ich mich entscheiden muss, oder weil ich es mir nicht leisten kann, oder weil es einfach unmöglich ist.
Ich kann sie nicht.. wobei eigentlich kann ich es nicht haben, weil ich es satt bin andere Menschen in Gefahr zu bringen.
Glaub mir, ich bin nicht gerne so ein Arsch, der dich ständig im Stich lässt und dich ständig verletzt.
Das Letzte was ich wollte ist, dir in irgendeiner Art Schaden zuzufügen, aber ich kann nicht anders.
Denn ich verletz dich lieber seelisch, anstatt dich wirklich in Gefahr zu bringen, Lila.
Ich will dir so viel sagen, aber ich kann nicht und du verstehst das nicht.
Und das ist wirklich verrückt, denn für gewöhnlich sind mir Leute nicht wichtig, zumindest keine, die ich seit fünf Wochen kenne."

Sprachlos starrte ich Nathaniel an.
Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich jetzt noch sagen sollte.
Nate hatte das erste Mal, seit ich ihn kannte, wahrscheinlich jemals das erste Mal über seine Gefühle und seine Wünsche geredet.

Zu erfahren was in ihm los war, ließ mich noch mehr realisieren, wie ähnlich wir uns doch waren und wie sehr ich ihn doch mochte.

Ich wünschte, ich hätte etwas mehr Geduld gehabt, hätte ihm mehr zugehört und mich nicht immer beleidigt zurück gezogen, denn dann hätte ich viel früher bemerkt, dass Nathaniel absolut nicht der Junge war, für den ich ihn gehalten hatte.

Er war kein Arsch, er war kein emotionsloser, schlecht gelaunter Mensch, dem alle egal waren.
Ganz im Gegenteil.
Er war der selbstloseste Mensch, den ich je kennenlernt hatte.

Nathaniel Brown beeindruckte mich mit jeder Sekunde mehr, in der ich mit samt meiner gepackten Taschen vor ihm stand und tief in seine braunen Augen sah.

Die letzten Wochen ließ ich in meinem Kopf Revue passieren und bemerkte erst jetzt, wie oft ich hätte merken können, wie liebevoll und rücksichtsvoll er doch war.

Ich verstand nun endlich, doch ausgerechnet jetzt, wo ich endlich soweit war, drehte sich der Brite um und ging zur Tür.

„Lila. Es tut mir leid.
Ich würde so gerne auf meine Gefühle hören, aber ich kann es nicht riskieren."

Und dann war er weg.
Er war wirklich weg.

In den nächsten zwei Wochen fehlte von Nathaniel Brown jede Spur, sogar Marco schwor darauf, nicht den Hauch einer Ahnung davon zu haben, wo ich unser Freund aufhielt und ich begann mir ehrlich Sorgen zu machen.

A heart's desiresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt