Kapitel 63.2

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Bogdan:
13 Stunden, 16 Minuten und 21 Sekunden...davon hatte ich 6 Stunden wie im Koma neben dem Bett meiner Frau geschlafen, und nun wartete ich. Damals, als sie entführt wurde, war es anders gewesen. Damals konnte ich das Böse in mir rauslassen, ich konnte sie retten und ihr helfen, aber jetzt...ich konnte nur warten, bis sie die Augen aufmachen würde. Sie würde nicht sprechen können, sie würde bestimmt Angst haben, aber sie wäre wieder bei mir und ich würde sie beruhigen. Ich würde ihr die Angst nehmen, ich würde sie anlächeln und einfach da sein. Das war das Einzige, dass ich tun könnte. Wir waren nun fast 10 Jahre zusammen, und noch immer konnte ich schlecht mit der Angst um sie umgehen. Sie so anzusehen, wie sie hilflos im Krankenhausbett lag, machte mich fertig. Diese Gepipe von der Beatmungsmaschine zerrte an meinen Nerven, ich hörte sogar das Tropfen des Infusionsschlauchs. Ich hörte alle 10 Minuten wie ihr Blutdruck gemessen wurde, ich konnte sehen wie sich ihr Torso hob und senkte und wie sich ihre Augen, unter den geschlossenen Augenlidern, bewegten. Meine Nada träumte wohl, und ich hoffte so sehr, dass sie weiterhin schöne Träume hatte. Gestern hatte Nina mir erzählt, dass meine Frau von unsere Hochzeitsnacht geträumt hatte. Danach hatte mich Nina in einen ruhigen Schlaf versetzt, und mir auch schöne Träume geschickt. Wie hatte sie das nur angestellt? Verfügte sie, so als Geist, über besondere Kräfte? Wie genau kommunizierte sie mit der anderen Seite? Wie lange würde sie noch bei uns bleiben? Ihre Worte gingen mir einfach nicht aus del Kopf, ich konnte das noch immer nicht fassen. Hatte der Herr, hatte er tatsächlich, so einen Deal angenommen? Hatte er uns gerettet, aber dafür Nina's Leben genommen? Wie genau funktionierte denn das? Musste man anders dafür sein? Musste man...ach verdammt! Konnte Nina mir diese Fragen beantworten? Konnte sie mir...
"Bogi, geht es dir gut?" hörte ich Lazar und fuhr zusammen. Er war hier, natürlich war er hier. Ich konnte ihn nur ansehen und nicken, doch dann bemerkte ich die Veränderung an ihm. Daran würde ich mich noch gewöhnen müssen.
"Du trägst die Kontaktlinse nicht mehr?" fragte ich matt und konnte meiner Stimme anhören, wie kratzig sie war.
"Nein, ich werde sie auch nicht mehr tragen.  Nina sagte gestern Abend, es sei genug mit dem Versteckspiel. Mit jedem Versteckspiel. Ich werde einige Fragen beantworten müssen, Dejan wird mich komisch ansehen, und dann werden sich alle daran gewöhnen" erklärte er ruhig und sah besorgt in Nada's Gesicht. "Bogi, du musst etwas essen und trinken, du musst dir das Gesicht waschen und dann genehmige dir eine Zigarette. Du sitzt hier seit 13 Stunden, mach eine kurze Pause Bogi. Ich bleibe bei ihr, ich weiche nicht von ihrer Seite, das verspreche ich dir. Nimm dir eine halbe Stunde, das brauchst du" sagte er mir eindringlich. Ich verstand ihn, er wollte mir helfen, aber ich konnte einfach nicht weggehen. "Danke Lazo, aber ich kann nicht. Könntest du? Wäre Nina an ihrer Stelle, könntest du dir dann eine Pause gönnen?" fragte ich matt und sah ihn an. Er lächelte kurz traurig und ich verfluchte mich für meine Frage. Was zum Teufel fragte ich da? Ich war eindeutig ein Arsch!
"Ich musste Bogi. Sie war oft im Krankenhaus und ich blieb immer, so lange ich nur konnte, aber ich musste mich zurückziehen. Ich musste Sergej bei ihr sein lassen, ich musste nach Hause zu Sonja und meinen Kinder, und ich musste mich zusammen reissen. So war es damals, es musste so sein" antwortete er kaum hörbar. Ich schwieg ein paar Herzschläge lang und räusperte mich. "Wie Lazo? Wie hast du die Kraft dazu aufgebracht? Wie hast du deine Angst nur bewältigt, ohne die halbe Stadt in die Luft zu jagen? Ich habe Nina gestern auch gefragt, aber das ist halt Nina. Sie hätte alles ausgehalten, sie hätte sich foltern und töten lassen. Sie hätte, und hat doch auch, jede Angst die es gab ausgehalten. Aber wie...verdammt, ich weiss nicht wie Lazo" flüsterte ich atemlos. Ich fühlte mich hilflos, ich fühlte mich, als hätte man mich verprügelt, durchgekaut und ausgespuckt.
"Bogdane, ich musste und ich habe geglaubt. Ich habe nie die Hoffnung und den Glauben verloren, dass sie wieder gesund wird. Das war mein Halt und da waren noch die Kinder. Sie hätte nie gewollt, dass ich mich aufgab und die Kinder vernachlässigte. Als ich dann alleine war, habe ich einfach nur gebetet und gehofft." Ich liess mir seine Worte durch den Kopf gehen und seufzte. "Du und Nina, ihr seid euch so ähnlich Lazo. Es ist fast schon unwirklich, wie ähnlich ihr euch seid" murmelte ich mehr zu mir selbst "darf ich dich etwas fragen Lazo? Etwas persönliches und schmerzhaftes?" Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich vor mich hin. Dann nickte er ernst und sah mich auffordernd an. Ich räusperte mich wieder und sah ein paar Sekunden, die richtigen Worte sammelnd, meine Frau an.
"Wie war es Lazo, als sie starb? Wie war es, als du es gesehen hast, als du sie in deinen Armen gehalten hast? Wie hast du das nur überlebt? Wie konntest du nur...Lazo, woher hast du die Kraft genommen, ihren Leichnam zu halten, zu waschen und sie dann aufzubahren?" Wahrscheinlich war das grausam von mir, aber ich musste diese Fragen stellen. Hatte ihn überhaupt jemand  mal gefragt? Oder hatten sie angst davor?
Lazar schloss traurig die Augen und atmete tief ein und aus. Dann sah er mich unergründlich an und räusperte sich.
"Zuerst kam die Fassungslosigkeit, ich wollte es nicht wahrhaben Bogi. Ich sah, wie sich Blut auf ihrer linken Brust sammelte, ich sah wie sie fiel. Ich sah ihren ungläubigen Gesichtsausdruck. Mein Gehirn, und mein Herz, wollten diese Bilder nicht akzeptieren. Alles in mir schrie und bebte, als wäre ich ein gefangenes Wildtier. In meinem Kopf schrie es nur NEIN. Ich sah und hörte, wie sie sich bei Sergej bedankte und als sie mich ansah...sie berührte meine Hand, sie sah mich unglaublich zärtlich an und sie lächelte kurz, während Blut aus ihrem Mundwinkel tropfte. Bevor sie starb, hat sie mich angelächelt Bogi...aber auch da wollte ich es nicht glauben. Niemand, nicht die Polizei oder Nenad, konnten mich von ihr wegreissen. Ich wollte sie mit all meiner Kraft, all meiner Liebe, wieder ins Leben zurück bringen. Oder auch sterben...das waren in diesem Moment meine Gedanken. Als ihr Körper kälter wurde, als kein Blut mehr floss, fühlte ich mich, als wäre ein Teil von mir nicht mehr da. Glaub mir Bogi, ich wollte alles zerstören, ich wollte Sergej in Stücke reissen, ich wollte Schmerz verbreiten aber dann...ich sah immer wieder ihr Gesicht vor mir. Ich sah, wie sie mich vor so vielen Jahren zum ersten Mal angelächelt hatte, ich sah ihren sanften Blick, ich hörte ihr Lachen und es war klar, dass ich nichts anstellen durfte. Meine Nina hätte das nicht gewollt, also tat ich das, was ich für das Beste hielt. Ich trug ihren Körper in die Autopsie, ich beantwortete dumme Polizeifragen, ich weinte wie ein Kleinkind neben ihr, ich ging um nach den Kindern zu sehen und holte ihr Lieblibgskleid. Nur darauf konzentrierte ich mich, ich wollte ihr, zum letzten Mal, etwas Gutes tun" erzählte er schmerzhaft und seufzte tief  "sie war meine Kraft Bogi, auch tot gab sie mir Kraft, obwohl ich am liebsten auch gestorben wäre. Verstehst du? Ich konnte nicht einfach aufgeben, ich hatte nicht das Recht dazu, denn ich musste ihr noch eine Hilfe sein. Wer hätte sie denn aufbahren sollen? Wer..Sergej, er war nicht dazu fähig und das verdiente sie nicht Bogi. Hätte ein Wildfremder sie waschen und anziehen sollen, sie lieblos wie eine Puppe behandeln sollen? Nein, ganz sicher nicht, das wäre abscheulich und grausam gewesen. Das hatte sie nicht verdient. Ich wollte ein letztes Mal für sie sorgen, ich wollte sie noch etwas bei mir haben, ich wollte sie beschützen und ich wollte ihr alles sagen. Das war ich ihr schuldig Bogi, denn sie hatte gelächelt. Sie hatte eine Kugel in der Brust gehabt, sie hat ihr Leben in meinen Händen ausgehaucht, aber sie hat mich, wahrscheinlich mit ihrem letzten Atemzug, angelächelt" beendete er seine Erklärung und schluckte schwer. Ich schwieg, denn ich konnte nichts sagen, seine Worte sassen schwer. Einfach ausgedrückt, war es Selbstlosigkeit. Er hatte nicht an sich, seine Angst oder seine Wut gedacht. Er hatte nur an Nina gedacht und wollte ihr geben, was sie verdiente. Er hatte ihr so seine Liebe gezeigt, zum letzten Mal.
"Ich hoffe von ganzem Herzen Bogi, dass du das nie erleben musst. Ich hoffe, deine Nada und du, schlaft einfach mal friedlich zusammen ein. Kein Buch, kein Film, kann diesen Schmerz beschreiben. Es fühlt sich an, als würdest du innerlich verbrennen, als würden sich deine Eingeweide in Säure verwandeln. Und doch...man muss weiter machen Bogi. Sie hat das gewusst und hat mir geholfen, sie ist jetzt hier und das ist ein Segen. Gott hat seine eigenen Pläne und Gründe und irgendwann, werde ich das alles verstehen" sagte er traurig lächelnd. Durfte ich ihm erzählen, was mir Nina alles gesagt hat? Es kam mir irgendwie falsch vor und doch...vielleicht hätte er ja dann wenigstens eine Antwort? Sie war gestorben, damit wir damals verschont blieben...eigentlich, nein. Nicht jetzt. Wie er mir alles erzählt hatte, wie seine Emotionen und den körperlichen Schmerz von Trauer beschrieben hat, es würde ihm nur mehr weh tun. Irgendwann würde Nina wieder weg sein, und dann würde ich es ihm sagen. Ich wusste sonst nichts mehr zu sagen, denn ich wusste nicht, ob ich jemals so selbstlos sein könnte. Alles was hier geschah, war einfach nur noch verwirrend und wer würde einem das schon glauben? Kein Schwein auf dieser Welt, das stand schon mal fest! Sie würden uns alle in die Klapsmühle einsperren. Doch es geschah  wirklich und ohne Nina, hätte meine Nada nicht überlebt. Nicht damals in Russland und auch gestern nicht. Gottes Plan hatte Lazar gesagt...war es vielleicht Gottes Plan, mich begreifen zu lassen? Sollte ich so endlich verstehen, wie oft Lazar in Angst um Nina gelebt hatte? Wie viel Kraft er für all das aufgebracht hat und noch immer tut?  Was es Seine ganz eigene Lektion? Ich wusste es nicht, aber was ich wusste, war eine Sache: ich hätte sofort den Platz mit meiner Frau getauscht, nur damit es ihr wieder gut geht.  Und genau in diesem Moment verselbständigte sich mein Mund.
"Wie oft hättest du den Platz mit ihr getauscht? Wie oft wärst du lieber der Kranke gewesen, derjenige, der all die Schmerzen, die Medikamente und die Angst ausgehalten hätte, nur damit es ihr gut geht?" Er stiess einen freudlosen Seufzer aus und blickte mich dann fest an. "Jedes Mal Bogi, jedes verdammte Mal, und das war oft.  Weisst du, das was du fühlst, ist normal. Ehrlich Bogi es ist normal und es ist schön, denn es zeigt, wie viel dir deine Frau bedeutet. So sollte es sein, denn sie fühlt genau gleich. Bei euch Zwei, ist es etwas ganz anderes als bei mir und Nina. Eure Liebe, euer Leben, ist nicht so verworren wie es unseres war. Das hier gerade, ist nur eine weitere Hürde, die ihr nehmen müsst. Ihr werdet das überstehen, Nada wird sich erholen, dann werden endlich alle Kinder wieder da sein und das Leben geht weiter. Das Leben Bogi, geht immer irgendwie weiter, ob mit uns oder ohne uns. Das Leben findet immer einen Weg und leider, verschont es niemanden. So war es schon immer und wird es immer sein, wir haben alle unsere Aufgabe auf dieser Welt, nichts geschieht ohne Grund. Aber jetzt, geh endlich etwas essen und rauch Eine, dann komm zurück. Sie soll dich nicht so aufgelöst und so mordlustig sehen, wenn sie aufwacht. Geh, beruhige dein Gemüt, und sei dann für sie da. Nur das kannst du tun" sagte er weich. Seine Worte ergaben Sinn, er hatte recht, nur kostete es eine übermenschliche Kraft, Nada's Hand loszulassen und aufzustehen. Es kam mir wie Verrat vor, es verunsicherte mich, und ich musste tief ein und ausatmen. Das war ein beschissenes Gefühl! "Du bleibst hier Lazo? Du gehst nirgends hin?" wollte ich eigentlich normal fragen, aber kam wie ein Fluchen rüber. Verdammt, wann würde ich denn endlich normal werden? Lazar aber verdrehte seine zweifarbigen Augen und wies mit der Hand zur Tür. "Bogi verschwinde endlich! Ich bin viel besser im Warten als du, du gehst mir auf den Sack! Übrigens habe ich dir ein Shirt mitgebracht und Deo, du stinkst, also zieh dich um. Sie soll ja nicht ins Koma fallen, wegen deinem Eau de parfum Stinktier" meinte er arrogant und brachte mich damit zum Lachen. Wie hatte Nina mal gesagt? Lazar war eben Lazar, da konnte man nichts machen. Ich nickte kurz lachend und bewegte mich so schnell wie möglich in Richtung Cafeteria. 15 Minuten, so lange könnte ich es aushalten. Ich würde schnell etwas essen, das Shirt wechseln, und wäre dann wieder da. Das würde ich aushalten, diese 15 Minuten.

Hope Hoffnung NadaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt