Fünf

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Lucien

Während ich meinen Tagesbericht mit der bedrückenden Mitteilung, dass unsere Nahrungsvorräte knapp werden, abschließe, herrscht eisiges Schweigen. Mein Bericht war der Letzte der Tagesversammlung.

Vielleicht sollte ich aber auch einmal erklären, was diese Versammlungen eigentlich sind: Im Laufe des Tages erledigt jeder von uns - der Platineinheit*, wie wir uns genannt haben - die Aufgaben seines oder ihres Spezialgebiets. Um sicherzustellen, dass niemand auf der faulen Haut liegt, und um gleichzeitig einen Überblick zu behalten, wobei auch die Harmonie und gegenseitige Abstimmung eine Rolle spielen, erzählen wir einander in unserem kleinen Kreis jeden Abend was wir geschafft haben, und zu welchen Erkenntnissen wir gelangt sind.

*(Diese Platineinheit besteht übrigens aus Freya, Hugo, Cheri, Fire, Ann und mir. Man könnte uns auch als Stellvertreter von Snow betrachten.)

"Es könnte Monate dauern, bis wir eine Antwort erhalten", wirft Cheri stirnrunzelnd ein. "Wenn meine Berechnungen stimmen, dann gehen uns unsere Vorräte aber schon davor aus. Langfristig würden uns die Briefe zwar weiterhelfen - aber wir sollten uns einen Weg überlegen, wie wir jetzt schon etwas gegen das Problem tun, oder wir treten alle durch den Hungertod frühzeitig ab."

"Bevor es dazu kommen würde, würde ich eher die verbrannten Überreste der Uman verspeisen, die wir in die leere Kammer geworfen haben", erwidert Ann ohne mit der Wimper zu zucken. Als wir sie daraufhin alle skeptisch ansehen, zuckt sie nur mit den Achseln, als wäre es das Normalste der Welt, die angekokelten Glieder jener Schreckenskreaturen zu vertilgen, die die Festung vor Wochen mit ihrer unnatürlichen Finsternis angegriffen und unsere Reihen um ein Viertel dezimiert haben.

Fire wirft Ann einen scharfen Blick zu und räuspert sich, ehe sie das Wort ergreift. "Ich könnte ein oder zwei Personen meiner Schattenorganisation damit beauftragen, Vorräte aus der Stadt hierher zu schmuggeln", bietet sie an. 

Nachdenklich schüttele ich den Kopf. "Wir brauchen jedes Kind deiner Einheit hier, um die Festung zu beschützen. Und deine Organisation in allen Ehren, aber - ich würde mich besser fühlen, wenn jemand, dem ich bedingungslos vertrauen kann, sich auf den Weg machen würde."

Eingeschnappt schnaubt Fire und verschränkt die Arme vor der Brust, während sie sich wie ein kleines Kind bockig zurücklehnt. Sie holt gerade Luft, als sie unterbrochen wird.

"Aber wer?", klinkt sich Cheri ein, bevor es zu einer Diskussion kommen kann.

Für eine Weile herrscht Schweigen, dann steht Freya schwungvoll von ihrem Stuhl auf und blickt jedem von uns der Reihe nach in die Augen. "Ich gehe." Ich merke, wie sowohl Hugo als auch Cheri protestieren wollen, aber ich bitte sie mit einer Handbewegung zu schweigen. Ich will hören, was Freya zu sagen hat.

"Fire kann nicht, sie muss ihre Organisation anführen", beginnt sie und atmet tief durch, während sie meiner kleinen Schwester einen bedeutungsschweren Blick zuwirft, "und Ann muss sich um Snow kümmern."

Ihr Blick wandert weiter in diesem Stuhlkreis. "Cheri kann auch nicht, sie muss ein Auge auf unsere Vorratskammer haben, damit wir alle nicht in Chaos versinken", nickt sie Cheri zu, "und Lucien muss die gesamte Verwaltung übernehmen und alle anführen. Snow ist verhindert", fährt sie fort, und ihr Blick fällt auf die letzte, übrigbleibende Person. "Und du...", murmelt sie heiser und schluckt schwer. "Du musst deine Wolfseinheit im Blick behalten und anführen, Hugo."

Sie dreht sich einmal langsam um die eigene Achse, um uns allen noch einmal einen Blick zuzuwerfen. "Ich habe keine Aufgabe, keine Pflicht, die mich an diesen Ort binden würde."

"Das stimmt nicht! Du musst uns vorwarnen, sobald du spürst, dass sich jemand uns nähert!", ruft Hugo aus. Ihm ist anzusehen, dass er strikt gegen diese Idee ist.

Freya schüttelt den Kopf und tritt einen Schritt zurück. "Seit zwei Wochen gab es keinen Angriff mehr, und weißt du warum?" Sie deutet aus dem Fenster, hinaus auf die schneeweiße Weite. "Weil Snow selbst in ihrem Zustand noch die schützenden Stürme aufrechterhält, die die Festung schützen und umwehen. Ich kann Snows Macht jede einzelne Sekunde da draußen spüren. Eine Armee, und sei sie noch so klein, würde da niemals lebend durchkommen. Somit bleibt unserem Feind eigentlich nur ein Ausweg - er müsste die Uman aussenden, um uns anzugreifen."

Sie atmet erneut tief durch. "Wie wir herausgefunden haben, können diese Wesen keinen einzigen Funken an Licht ertragen, ohne zu zerfallen, unabhängig davon, ob es künstliches, Sonnen- oder Mondlicht ist. Deswegen tragen sie diese Finsternis mit sich herum - und die ist so unnatürlich, dass sie ein jeder von uns mit dem bloßen Auge rechtzeitig erkennen kann."

"Stell Patrouillen auf", wendet Freya sich nun an mich. "Lass sie in unregelmäßigen Abständen auf den Balkonen Stellung beziehen, und lass sie immer wieder wechseln, damit der Feind - sollte er uns beobachten - kein Muster erkennen kann. Lass niemanden außer uns und den jeweils Wachhabenden wissen, wann gewechselt wird. Auf diese Weise können wir verhindern, dass jemand unserer Leute - sollte es rein hypothetisch einen Verräter in unserer kleinen Armee geben - unsere Bewegungen an den Feind übermittelt."

Langsam nicke ich. "Das klingt nach einem guten Plan - einem, den ich direkt nach dieser Versammlung in die Tat umsetzen werde."

"Lasst mich in die Stadt gehen und die Vorräte besorgen", nimmt Freya nach einem dankbaren Lächeln den Faden des eigentlichen Themas wieder auf. "Ich kann die Soldaten umgehen und mich unbemerkt einschleichen - ich spüre immerhin jede Person in meinem Umkreis. Hier gibt es für mich außerdem derzeit nichts zu tun - außer meiner Gabe besitze ich nichts, keine Fertigkeit, die euch hier von nutzen wäre." Das Kinn hoch erhoben, der Rücken gerade, strafft Freya die Schultern und nickt knapp in meine Richtung.

"Wer dafür ist, hebe die Hand", werfe ich kurz angebunden in den Raum. Fire, Ann und ich stimmen recht schnell dafür, Cheri tritt unserer Meinung zögerlich bei, und wie erwartet weigert sich nur Hugo gegen die Idee.

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und ergreife wieder das Wort. "Tja, sieht so aus, als hätten wir unsere Schmugglerin", lächle ich Freya zuversichtlich an. "Damit ist diese Versammlung für heute beendet."

Ich schaffe es kaum den Satz auszusprechen, da ist Freya schon an der Tür. Herausfordernd funkelt sie Hugo an und verabschiedet sich mit einem schnellen "Ich sollte schleunigst los".

Keine Sekunde später ist auch ihr Geliebter aus dem Saal geschlüpft, zweifellos, um noch eine Diskussion unter vier Augen mit Freya zu führen.

"Glaubst du, die beiden trennen sich wegen dieser Entscheidung?", schneidet Fire eine Grimasse und Cheri seufzt tief.

Müde strecke ich mich. "Ich hoffe es nicht", antworte ich gähnend, "denn die Liebe ist der größte Vorteil, den wir gegen unsere Feinde haben." Und kaum habe ich den Satz ausgesprochen, trifft mich ein Stich der Einsamkeit.

Bitte finde schnell wieder zurück in die Realität, Snow.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt