Fünfzig

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Linus

„Vorsicht", murmele ich leise, als ich einen Ast zur Seite ziehe. Lächelnd blicke ich zu Lia zurück, die sich einige Schritte hinter mir befindet, die Augen zielsicher auf die Umgebung hinter uns gerichtet.

Wütend funkelt sie mich an, aber ihre Mundwinkel zucken. „Ich kann selbst aufpassen", zischt sie.

Belustigt schnaube ich. „Du wärst vorhin beinahe gegen den Baum gerannt, wenn ich dich nicht in letzter Sekunde zur Seite gezogen hätte."

„Das war nur einmal...", protestiert sie schwach, und lächelt dann doch breit. „Na gut. Punkt für dich."

Die Meeresströmungen haben uns zu einer Insel gebracht, die wir nun bereits seit einigen Stunden erkunden. Lia hat uns recht schnell mit Essen und Trinken versorgen können – ohne sie wäre ich vermutlich allein beim Versuch schon gestorben – und nun versuchen wir uns einen Überblick zu verschaffen, wie groß diese Insel ist.

Während ich vor uns die Augen offenhalte, sorgt Lia für unsere Rückendeckung – und stellt sich dabei heute irgendwie ungewöhnlich ungeschickt an. Bisher habe ich sie nur ein einziges Mal nach dem Grund gefragt, und sie hat mir mit geröteten Wangen kurzerhand gesagt, das ginge mich rein gar nichts an – also habe ich dieses Thema nicht mehr angesprochen.

Plötzlich packt sie mich am Arm und zerrt mich zu Boden. „Runter!", zischt sie und sofort lasse ich mich in die Hocke fallen. Sie legt nach einem mahnenden Blick einen Finger an die Lippen – Kein Laut mehr.

Einige Sekunden später höre ich es dann auch: Flügelschlagen. Es kommt langsam immer näher, wird immer lauter – das sind definitiv keine Vögel.

Aus unserem Versteck inmitten eines Busches kann ich jedoch nichts erkennen, keine Dunkelheit, keine finstere Mauer.

Lias Griff um meinen Arm verstärkt sich – Achtung.

Ich lausche und spähe so angestrengt wie ich kann, aber ich höre und sehe nichts. Lia dagegen ist blass geworden und ihre Augen zucken andauernd zwischen zwei Punkten hinund her. Fragend blicke ich sie an, aber sie schüttelt kaum merklich den Kopf – Jetzt nicht.

Also warte ich. Und warte.

Nach einer halben Stunde werde ich unruhig und mein Körper beginnt zu schmerzen und zu verkrampfen.

Nach einer Stunde ist mir am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen.

Nach zwei Stunden zittere ich wie verrückt und mein Körper fleht mich an, sich endlich zu bewegen.

Doch Lia starrt immer noch auf diese beiden Punkte und scheint zu lauschen.

Um mich abzulenken betrachte ich sie und ihre Haltung: Sie hockt wie ich in der Hocke, aber ihr Körper zittert nicht, sie sitzt da als wäre sie aus Stein, unbeweglich. Ihre dunklen Haare hat sie wie immer zu einem Zopf geflochten, wobei ihr einige Strähnen schweißnass ins Gesicht hängen. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Haut trotz der Blässe gerade von einem schönen Goldton.

Sie ist wunderschön.

Und mit ihr werde ich die Bedeutung von Frieden herausfinden. An ihrer Seite.

Trotz der Anspannung in ihrem Körper greife ich nach ihrer Hand und verwebe meine Finger mit ihren - Gemeinsam. Sie wirft mir einen Seitenblick zu und schmunzelt, wendet sich dann jedoch schnell wieder dem Geschehen zu, wie auch immer dieses aussehen mag.

Die Zeichensprache hat sie mir auf dem Meer beigebracht. Nicht viel, nur einige grundlegende Kommandos und Kommentare, die sich als nützlich erweisen könnten. Einige nutzen wir seither öfter, andere seltener.

Die Geste für Gemeinsam beispielsweise nutzen wir seit wir aus dem Boot gestiegen sind andauernd. Immer wieder brauchen wir einfach diese Versicherung, dass wir nicht alleine sind, dass wir alles gemeinsam durchstehen werden, und dass wir, wenn wir fallen sollten, auch das gemeinsam tun werden.

Man könnte es als albern bezeichnen, aber es gibt mir jedes Mal ein wohliges Gefühl – und ich bin nicht der einzige, der diese Bestätigung andauernd benötigt. Lia hat mindestens genauso oft nach meiner Hand gegriffen wie ich nach ihrer.

Endlich – endlich entfernt sich das Flügelschlagen wieder, wir bleiben jedoch noch eine Weile sitzen.

Dann atmet Lia auf und drückt meine Hand. „Sie sind weg."

„Was war los?", lege ich fragend den Kopf schief.

Ihre Wangen werden noch röter. „Anscheinend... Gibt es auch unter Uman Liebschaften. Das gerade...war eine davon."

„Ich konnte nichts sehen und nichts hören", runzle ich die Stirn.

Lia nickt und beißt sich auf die Unterlippe. „Sie waren sehr leise – ich würde sagen, ihrAnführer weiß nichts von ihrer... Beziehung. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass sie sich weggeschlichen haben, um sich... zu amüsieren", schüttelt sie den Kopf.

Dass ihr so oft die Worte stocken, bringt mich zum Grinsen. „Seit wann bist du so empfindlich, wenn es um das Thema Sex und Liebe geht?"

Sie schneidet eine Grimasse, verpasst mir einen Klaps gegen die Schulter und steht auf, wobei sie mich auch auf die Füße zieht. „Ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht um zu akzeptieren, dass es die Uman überhaupt gibt. Immerhin sind sie ewig lang nichts weiter als Bestandteil eines Schauermärchens gewesen. Dass sie sich auch noch Fortpflanzen und dabei so ähnlich empfinden und klingen ist... erst recht verstörend." Wieder schüttelt sie den Kopf. „Immerhin habe ich brauchbare Informationen erhalten: Sie scheinen eine Art Stützpunkt auf dieser Insel zu besitzen und ihr Anführer ist eine Frau – finstere Prinzessin, haben sie sie genannt."

„Dann sollten wir äußerst vorsichtig sein und schnellstmöglich von hier verschwinden", befinde ich. Wenn es hier tatsächlich einen Stützpunkt gibt, dann sind da noch so viele Uman mehr...

Lia dagegen kaut auf ihrer Unterlippe herum. Fragend sehe ich sie an und sie verschränkt die Arme. „Sie haben noch von etwas anderem geredet. Aber ihre Wortwahl war nicht ganz eindeutig, zu hektisch... Sie könnten Einrichtung gemeint haben. Oder Institut? Und Gabe... irgendein Talent", grübelt sie. „Und...", plötzlich werden ihre Augen groß und ihre Haut noch blasser.

„Was ist los? Was hast du herausgefunden?"

„Kinder. Sie haben... Kinder mit irgendwelchen Gaben und Talenten in eine Art Einrichtung gesteckt", flüstert sie.

„Denkst du, sie könnten Kinder meinen wie die, mit denen wir zusammen gearbeitet haben..?", hake ich nach.

Lia strafft die Schultern, in ihrenAugen brennt Entschlossenheit. „Es gibt nur einen Weg das herauszufinden." Oh nein. „Wir brechen ein und befreien sie."


Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt