Neunundvierzig

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Snow

Die Hand an seiner Brust, warm und geborgen von seinen Armen umschlungen, um uns herum angenehm heißes Wasser - so liegen Lucien und ich in der Wanne und hängen unseren eigenen Gedanken nach, während wir dem  Herzschlag des jeweils anderen lauschen.

Es gibt viele Arten von Intimität und Nähe, und nicht jede davon muss zwanghaft mit Sex zu tun haben. So mit Lucien herumliegen und nachdenken zu können, in Ruhe und Frieden, nackt, sicher, warm und geborgen, allein zu zweit - das hat irgendwie etwas weitaus intimeres an sich, als wenn wir nur wie Tiere über einander herfallen würden.

Wie oft, frage ich mich unwillkürlich, werden wir wohl noch Gelegenheit dazu haben? So entspannt herumzuliegen, ohne unmittelbare Gefahr fürchten zu müssen, ohne uns den Kopf über unsere Pflichten zerbrechen zu müssen. Ich könnte ewig so weiter machen. Einfach ein entspanntes Leben mit Lucien führen, nur wir beide, abgeschottet  vom Rest der Welt.

Aber stattdessen herrscht Krieg. Auf der anderen Seite des Ozeans feilt mein Vater ununterbrochen an Plänen, wie er meine Rebellion zu Fall bringen und in seinen Gewahrsam bringen könnte. Nicht um an mich ranzukommen - sondern an meinen Körper, und der darin eingepflanzten Seele meiner Mutter.

Wozu das alles, frage ich mich selbst mittlerweile?

Sicher, Ice Tod schmerzt mich noch. Die Gräueltaten des Monsters von Vater schmerzen noch, sowohl aus dieser Generation, als auch aus der Letzten. Sowohl das was er mir angetan hat, als auch das was er Mutter angetan hat.

Aber je mehr Zeit ich in dieser Festung verbringe, je mehr Zeit ich mit Lucien verbringe, je mehr entspannte und ungezwungene Momente wie diese ich erlebe - desto mehr hasse es, in diese andere Rolle schlüpfen zu müssen. Diese andere Maskerade aufrecht erhalten zu müssen.

Ich bin eine verbannte Kronprinzessin, eine ehemalige Sklavin, eine Rebellin, eine Anführerin, und eine Kriegstreiberin. Für mein eigenes Volk bin ich eine Verräterin, eine sadistische Tyrannin, nicht mehr als ein Monster das ein anderes Monster bekämpft. Sie hoffen zweifellos, dass wir Monster uns gegenseitig umbringen, und dabei beide Probleme unserer Existenz aus dem Weg schaffen.

Für meine selbst aufgebaute, nicht blutsverwandte Familie bin ich der Schlüssel zu einer friedlichen Welt, die fleischgewordene Erlösung.

Doch tief in mir drin bin ich nicht viel mehr als ein neunzehn Jahre altes Mädchen, gezeichnet von Verrat, gebeugt von Verlust, gebrochen von Vernichtung.

Die dunklen Buchstaben auf meinem Rücken, jenes dunkle Mal - VERBANNT - glüht geradezu wie ein Brandeisen auf meiner Haut.

Nachdenklich zeichne ich kleine Kreise aus Luciens Brustkorb und genieße wie seine warme Hand mir langsam und sanft durch das nasse Haar fährt. Ich schließe genussvoll die Augen.

Ich bin nicht viel mehr als ein Kind, das mehr gesehen, mehr erlebt und mehr gefühlt hat als es jemals ein Mensch sollte, und ich bin bereits beschäftigt genug damit langsam zu heilen, wieder zu mir zu finden, die Bruchstücke meiner selbst zusammen zu klauben und verzweifelt an mich zu pressen, während ich panisch versuche die einzelnen Fragmente meiner kaputten Seele wieder zum ursprünglichen Bildteppich zusammenzusetzen.

Luciens Nähe hilft mir. All die Zeit mit ihm hilft mir, die Traumata zu verarbeiten und gebannt zuzusehen, wie die Narben meiner Seele langsam verblassen. Es lässt mich zur Ruhe kommen.

Aber es lässt mich auch träge, langsam und sesshaft werden.

Es lässt mich den Sinn dieses Krieges nicht mehr wirklich sehen.

Sicher, mein Vater ist mehr als ein gottverdammter Mistkerl, er hat unzählige Grenzen der Menschlichkeit überschritten und jemand muss ihm Einhalt gebieten, bevor er zu mächtig wird. All die Menschen, die mir folgen, tun es aufgrund des vereinten Hasses auf den König und die Hoffnung auf eine bessere Welt. Eine Welt, die ich ihnen in ihren Augen liefern werde.

Doch bin ich nicht mehr bei der Sache, stehe nicht mehr voll und ganz hinter diesem Kampf, bin kein vollwertiges Teil dieser Armee mehr, kein vollwertiges Mitglied mehr in ihren Reihen. Ich sehe keinen Nutzen, keinen Sinn für mich selbst mehr darin.

Die anderen sind mächtig, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie könnten sich selbst befreien, wenn sie den Schritt wagen würden. Dafür brauchen sie mich nicht länger.

Ich habe Frieden gefunden, zumindest ansatzweise, und ich habe nicht vor diesen so leicht aus der Hand zu geben.

Die Gedanken sind zäh und schleimig wie Öl, pechschwarz und klebrig, während sie sich in meinem Inneren ausbreiten und mich zweifeln lassen. Schuldgefühle machen sich in mir breit - so viele sind für diesen Traum bereits gestorben, so viele Leben auf meine Kosten.

Und ich - die, die geschworen hat das alles zu beenden und ein neues Zeitalter einzuläuten -, ausgerechnet ich zweifle.

Meine Finger verharren auf Luciens Brust als ich die Augen öffne und ich spüre wie er mir neugierig seine Aufmerksamkeit zuwendet.

Zögerlich erzähle ich ihm von meinen Gedanken und Zweifeln - von allen. Ohne Ausnahme. Würde ich sie weglassen und verdrängen würde er es ohnehin durch unsere Verbindung spüren und es sowieso herausfinden. Ich lasse ihn sogar meine Emotionen dabei durch unser Band spüren, damit er mich besser verstehen kann. Die Schuldgefühle. Die Scham. Die Zweifel. Die Angst.

Alles.

"Wenn wir es nicht beenden, werden wir niemals damit abschließen können", murmelt er schließlich dicht an meinem Ohr. "Der König wird nicht aufhören dich zu jagen, und wenn wir ihn nicht stoppen wird er seine Macht unermesslich ausdehnen bis wir keinen einzigen Schlupfwinkel, kein einziges Versteck mehr finden können. Wir würden in permanenter Angst leben müssen, immer versteckt, immer Schatten, immer auf der Hut... das wäre kein Leben mehr. Das wäre eine Tortur."

Ich kuschle mich enger an ihn, meine Wangen werden ein klein wenig heiß weil ich einen so naiven Gedanken zugelassen habe. Ich weiß, dass er recht hat.

"Aber", fügt Lucien hinzu, dem meine Reaktion nicht entgangen ist und seine Hand wandert von meinem Haar meinen Rücken hinab, "Ich kann verstehen, warum du es gedacht hast. Ich selbst habe auch schon öfter darüber gegrübelt", gibt er zögerlich zu. "Und ich komme jedes Mal am selben Punkt an: Wir müssen ihn selbst töten, es mit eigenen Augen erleben und sehen, oder die Ungewissheit wird uns mit der Zeit qualvoll hinrichten."

Ich atme tief durch und schließe wieder die Augen, während ich eine Hand auf meinen Bauch lege, in der Hoffnung, die aufkeimende Übelkeit damit verdrängen zu können. Sein Geständnis nimmt mir die Scham, räumt meine Zweifel aus, macht mich entschlossen. Aber es macht mir auch Angst.

Es lässt mich, meine Wange auf seiner Brust gebettet, im Stillen einen Schwur mit selbst gegenüber ablegen, so tief verborgen, dass nicht einmal unsere Verbindung ihn auffangen könnte:

Ich werde diesem Krieg so schnell es geht ein Ende bereiten, koste es was es wolle.

Ich schlage die Augen wieder auf, und starre mit hellglühendem eiskalten Blick in die Leere.

Selbst wenn ich dafür die gesamte gottverdammte Welt in Brand stecken müsste.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt