Siebenundachtzig

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Snow

[Wortlos stürme ich an Scarlet und dem Schrank vorbei, reiße die Tür auf und haste den Gang entlang. Sie versuchen nicht einmal, mich aufzuhalten.]

Freedom... Oh Freedom, du kleines Licht der Hoffnung, du bist von Anfang an nie besonders im Kampf bewandert gewesen... Wieso nur hast du dich dann in diese Gefahr begeben, in ein Schloss voll von künstlichen Kreaturen, die dazu gemacht wurden, selbst die Mächtigsten hinzurichten?

Ann, meine kleine, süße Schwester. Du hast mir wenige Stunden vor meiner Entführung noch gestanden, wie viel Angst du hast, mich auch noch zu verlieren - so wie Ice und Iane, und in gewisser Weise vielleicht auch wie Fire -, daher kann ich verstehen, dass du mich zurückholen willst, doch wie kannst du dich so sehr von deinen Emotionen blenden lassen, dass du mir denselben Schrecken antust?

Und Lucien... Lucien, du verdammter, empathischer Idiot! Du weißt, wie viel mir die beiden bedeuten und wie sehr es mir das Herz brechen würde sie zu verlieren, doch denkst du auch nur eine Sekunde daran, dass es mich noch mehr schmerzen könnte, ausgerechnet dich nie wieder zu sehen? Du bist doch der Grund, warum ich dieses Leben überhaupt noch lebenswert finde!

Erinnerung steigen in meinem Geist auf, Erinnerungen an Einsamkeit, Verzweiflung, Ketten und Dunkelheit, Folter und Gebrochenheit, Erinnerungen an den Wunsch, zu sterben, an den Wunsch, ewig zu schlafen, an den Wunsch, mich nie mehr um die Gefühle und Gedanken anderer sorgen zu müssen...

Die Wände des Gangs fliegen geradezu an mir vorbei, ich merke erst, dass ich weine, als ich beinahe in eine Wand hineinrenne, so verschwommen ist mein Blick von dem Tränenschleier in meinen Augen, ich balle die Hände zu Fäusten und erinnere mich vage daran, dass ich in meinem Zustand vielleicht nicht in vollem Tempo geradewegs in die Gefahrenzone rennen sollte, doch der Gedanke verliert für mich sofort an Bedeutung, denn was bringt mir das alles, wenn ich Lucien möglicherweise auf ewig verliere?

Als ich um eine Ecke husche und plötzlich drei Gestalten vor mir stehen sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen, doch ich habe so viel Schwung, dass ich das Gleichgewicht verliere und vermutlich hingefallen wäre, hätte nicht eine der Gestalten im letzten Moment eine Hand an meinen Rücken gelegt und mich an sich gezogen.

Der vertraute Duft von Rauch und Glut steigt mir in die Nase, eine Aura aus Flammen, Licht und Glut umhüllt mich, und unwillkürlich fange ich an, noch stärker zu weinen und mein Gesicht noch fester an seine Brust zu pressen, obwohl sie mit Metall gepanzert, dellig, kratzig und blutverschmiert ist. Mutter hatte Recht - diese Aura würde ich jederzeit wieder erkennen. "Snow?", fragt eine bekannte Stimme sanft, als würde sie es selbst nicht glauben können und der kleinste Hauch mich wieder verschwinden lassen.

Ich nicke eifrig und schluchze noch einmal leise, ehe ich mich ein Stück weit zurückziehe und ihm mit aller Kraft einen Klaps auf die Schulter verpasse. Er ist so verdattert, dass er ein Stückweit zurückweicht unter der Wucht. "Wie kannst du es wagen, mir so eine Angst einzujagen, du verfluchter Mistkerl!", schluchze ich und stiere Lucien mit brennenden Augen an. Meine Fäuste zittern, meine Lippen beben, meine Wangen sind noch immer tränenüberströmt, doch noch bevor er Gelegenheit hat etwas zu entgegnen, ziehe ich ihn am Kragen seines Hemds unter der Rüstung zu mir hinunter und küsse ihn, immer wieder.

Hinter uns höre ich Schritte und neben uns ein Ächzen, doch mir ist gerade alles egal, bis sich dieses wunde Gefühl in meiner Brust nicht vollends verflüchtigt hat. Wieder und wieder und wieder küsse ich Lucien, und mit jeder Berührung unserer Lippen lässt der Druck auf meiner Brust ein Stück weit mehr nach und wird ersetzt durch eine angenehm brodelnde Wärme.

Schließlich lösen wir uns beide keuchend wieder voneinander, doch meine Finger sind noch immer in seinen Kragen gekrallt. Der Schrank hatte recht, ich bin tatsächlich kleiner geworden. Früher bin ich mit Lucien in etwa auf einer Höhe gewesen - doch nun trennt uns ein ganzer Kopf. Schluchzend starre ich in seine verschleierten Augen und spüre aufs Neue - ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Nie mehr.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt