Lucien
Elf Tage, zwölf Stunden, neun Minuten und sechsunddreißig Sekunden ist Snow nun schon fort.
Das sind zweihundertfünfundachtzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden, die sie sich nun schon in den Händen des Feindes befindet und wer weiß was ausstehen muss. Siebzehntausendeinhundertundsechsunddreißig Sekunden, seit denen sie bereits tot - oder tödlich verwundet - sein könnte.
Davon bin ich einhundertachtundneunzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden wach gewesen. Habe Gefechte geplant. Schlachten gefochten. Und so viele götterverdammten Soldaten, Bestien und was noch so in den Untiefen der Armee des lunischen Königs kreuchen und fleuchen mag, abgeschlachtet.
Das sind elftausendachthundertundachtzig wache Sekunden - und in jeder Einzelnen habe ich Snows Abwesenheit schmerzhaft gespürt und sie unendlich vermisst.
Seufzend trete ich in das kleine, unbedeutende Zelt ein, in das ich umgezogen bin. In dem Großen habe ich es nur eine winzige Sekunde lang ausgehalten, bevor mir ihr Duft in die Nase gedrungen und die Erinnerungen hochgestiegen sind - und seit dieser einen einzigen Sekunde existiert das Zelt nur noch als unbedeutendes Aschehäufchen.
Ich greife nach dem Wasserkrug und wasche mir behelfsmäßig das Gesicht mit einem Lappen ab. Sofort färbt sich das Wasser blutrot. Das Ganze habe ich nun schon so oft getan, dass es nichts mehr als bloße Routine ist. Nachdem das Blut von den Schlachtfeldern erst einmal eingetrocknet ist, bemerke ich es eigentlich gar nicht mehr - und folglich stört es mich auch nicht.
Eigentlich wasche ich mein Gesicht nur noch, weil Cheri das letzte Mal beinahe einen Anfall gehabt hätte vor Sorge, es könnte mein Blut sein. Sie dürften nicht auch noch mich verlieren, sonst wüssten sie gar nicht mehr, was sie noch tun sollten - jetzt, da Snow nicht länger an unserer Spitze steht.
Snow.
Ein Gedanke - und schon spüre ich wieder die Flammen an meinen Fingern züngeln. Kurzerhand packe ich den Krug, trete nach draußen und kippe ihn mir über dem Kopf aus.
Das kalte Wasser bringt mich wieder zur Besinnung. Zumindest so weit, wie es mir ohne Snow möglich ist. Keuchend wringe ich meine Haare aus und schleppe den Krug danach zur Lagermitte, wo sich alle Mitglieder unserer Armee, die nicht kämpfen können, so nützlich machen wie nur irgend möglich.
Mit einem knappen Nicken begrüße ich Ann, die auf einem breiten Felsbrocken sitzt und Stoffe zu Verbänden zerschneidet. Ihre Augen glühen regelrecht vor Energie - entgegen meiner Erwartung hat sie sich nach Snows Entführung nicht in ihrem Zelt verschanzt, sondern sich mit geradezu erschreckendem Eifer auf jede noch so kleine Aufgabe gestürzt, die sie erledigen kann.
"Immer noch nichts Neues?", frage ich krächzend an Cheris Tochter und das Mädchen neben ihr gewandt.
Erstere schüttelt den Kopf, eine ihrer Hände liegt jederzeit angriffsbereit auf dem Arm des Mädchens neben ihr. Sollte das Mädchen auch nur eine einzige Sekunde lang einen negativen Gedanken gegenüber Snow hegen, wird Cheris Tochter mit ihren Flammen zuschlagen. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.
Sie und Freedom haben sich wenig später nach ihrer Ankunft getroffen, und mit Verblüffung festgestellt, dass die Menschenkenntnis von Cheris Tochter genauso zutreffend ist wie Freedoms Gabe, in einem einzigen Wimpernschlag zu merken, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt - nur, dass Cheris Tochter dazu keine Magie benötigt.
"Wir versuchen es weiterhin", antwortet sie knapp.
Das Mädchen neben ihr hat sichtlich angespannt die Augen geschlossen, sie zucken unheimlich hin und her während sie ihre Magie nutzt. Telepathie - eine nützliche Gabe, um über weitere Strecken hinweg gedanklich zu kommunizieren. Fire ist zwar der Meinung, sie sei absolut vertrauenswürdig, aber Ann und ich haben sicherheitshalber darauf bestanden, sie rund um die Uhr entweder von Cheris Tochter, oder von Freedom bewachen zu lassen. Sie sind die einzigen beiden, die es sofort erkennen würden, wenn sie etwas Falsches versuchen oder Snow andere Worte übermitteln sollte, als sie vereinbart waren.
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Freezing Fire
Fantasy↬Wenn Wahrheit und Lüge sich leidenschaftlich umschlingen...↫ ...Ich sehe ihn. Klar und deutlich sehe ich ihn, sehe sie beide, sehe ihr Feuer, ihre Glut. Ich kenne mein Ziel. Ich weiß, wohin ich muss. Jedes Quäntchen ihres Lichts schreit mir ihre Ge...