Sechsunddreißig

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Lucien

Die Bilder zersplittern, und diesmal folgt keine neue Erinnerung.

Wir stehen voreinander in der unendlichen Eishöhle von Cynthias Seele - allerdings steht Snow in dem beschatteten Bereich, und ich in dem hell erleuchteten. Hinter uns beiden steht je eine Version von Cynthia, die uns hier temporär gefangen hält.

Snow wird seit ihrem Zusammenbruch von der dunkeln, gebrochenen Hälfte Cynthias gequält.

Ich werde, seit ich Ices Ring übergestreift habe, von der hellen, heilen Hälfte Cynthias beschützt.

Beide zusammen haben uns ihre Erinnerungen gezeigt - und wie sie sich zu dem entwickelt haben, was sie sind.

Genauso wie Lynn, der sich in meinem Inneren befindet und die Ursache für all die Visionen sein muss, die ich gehabt habe: Die Stimmen der Uman, die Rüstungsteile... alles, was ich vor meinem inneren Auge gesehen und was ich trotz absurder Umstände gehört habe muss ein Teil von Lynns Macht oder seiner Seele gewesen sein.

 Snows Körper sieht ausgezehrt und von Verletzungen übersät aus. Sie hängt in Ketten, die leicht von innen heraus glühen - ein Teil meiner Macht, der sie wohl erreicht hat - und ihre Augen sind blutunterlaufen. Sie sieht aus, als hätte sie seit Wochen nicht mehr ihre Augen geschlossen oder geschlafen.

Aber sie vor mir zu sehen...

Sie lebendig und wach vor mir zu sehen...

Ich habe das Gefühl, meine Knie würden jeden Moment unter mir nachgeben.

Am liebsten würde ich zu ihr rennen.

Sie befreien.

Nein.

Das darf ich nicht.

Ich muss standhaft bleiben.

Ich muss mich an den Plan halten, den ich und Ann ausgearbeitet haben.

Ich sage kein Wort, gebe keinen Laut von mir, während ich mein Licht und mein Feuer nach ihr ausstrecke.

Nach ihren Ketten.

Das Glühen verstärke.

Die Hitze bis zum entscheidenden Punkt erhöhe.

Snow anlächle.

Und dann urplötzlich loslasse.

Die Verbindung zwischen unseren Seelen trenne.

Mich zurück in die Realität fallen lasse.

Sie die letzte Botschaft von Ice hören lasse, die er im Inneren des Ringes für sie im Augenblick seines Todes hinterlassen hat.


Wieder in der Realität angekommen halte ich die Augen geschlossen, meine Hand mit dem Ring umklammert nach wie vor Snows linke Hand, an der sich ebenfalls ihr Ring befindet. Ich spüre, wie Fire mir den anderen Ring in die Hand drückt. Langsam, vorsichtig, streife ich ihn über Snows rechten Ringfinger und lege auch meine rechte Hand über ihre.

Dann höre ich ein leises Klirren von dem Geschwister-Ring - das Zeichen, dass die Botschaft zu Ende durchgelaufen ist.

Ich schlage die Augen auf und blicke nachdenklich auf die zerbrochenen, zersplitterten Überreste des kleinen Steins. Ein Nicken von Ann bestätigt unsere Vermutung - nachdem Snow Ices Botschaft gehört hat, sind sämtliche Steine der Geschwister-Ringe zersprungen. Vorsichtig kehre ich die Überreste vom Bett und überlasse sie Ann - ebenso wie die intakten Metallfragmente. Diese verschwindet gemeinsam mit Fire hastig aus dem Raum, wie ich sie angewiesen habe.

Schmunzelnd fällt mein Blick auf den anderen Ring, den sowohl Snow als auch ich nun tragen, mit dem einzigen Unterschied, dass meine Version etwas dicker ist.

Es handelt sich um ein filigran gedrehtes Band aus Roségold, in dessen Mitte ein fingernagelgroßer Rubin glänzt - nur, dass es natürlich kein normaler Ring ist. Nein, es handelt sich dabei um Snows Freifahrtsticket zurück in die Realität - wenn sie beschließen sollte, es zu nutzen. Wenn sie beschließen sollte, es zu wollen.


Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt