Neunundsiebzig

15 3 0
                                    

Snow

Zwölf Tage, acht Stunden und zweiundzwanzig Sekunden spiele ich jetzt schon mein kleines Spiel.

Ich stelle mich schlafend, so wie es mir von Mutter aufgetragen worden ist, trotz aller Bemerkungen, die ich aufschnappe, trotz aller Berührungen und Schmerzen und Tests und Versuche. Die Augen geschlossen, der Körper ganz schlaff und beweglich, die Lippen leicht geöffnet, liege ich so wie immer in meinem seidigen Bettchen und warte auf den mir versprochenen Prinzen, der mich retten kommen soll.

Stück für Stück sind meine Erinnerungen zurückgekehrt - aber noch längst nicht alle. Ich erinnere mich mittlerweile an unzählige Momente, Szenen, Begegnungen und Treffen, die ich mit dem sogenannten Feuerprinzen ausgetauscht habe. Sein Name ist mir nach wie vor entfallen, doch ich weiß noch, dass er wie Musik in meinen Ohren klang.

Auch an meinen Zwillingsbruder habe ich mich erinnert - Ice. Die Erinnerung an seinen Tod schmerzte mehr als erwartet, und an dem Tag, an dem ich mich an ihn erinnert habe, ist es besonders schwer gewesen so zu tun, als wäre nichts. Den ganzen Tag brannten ungeweinte Tränen hinter meinen geschlossenen Augen, mein Magen war bleischwer und mir war kotzübel. Trotzdem habe ich es irgendwie geschafft, alle hinters Licht zu führen.

Ich hasse alles und jeden in meiner jetzigen Situation.

Ich hasse das seidige Bett, die weichen Kissen, die nachgiebige Matratze.

Ich hasse es, dass mein Körper mittlerweile unfassbar steif geworden ist und wehtut, wenn ich mal wieder zu lange in einer Position verharrt habe, ich hasse es, dass meine Augen von der Dunkelheit brennen, in die ich sie andauernd zwinge, ich hasse es, dass ich mich nicht kratzen kann, wenn eine Stelle juckt.

Ich hasse es, dass sie andauernd ihre Tests und Versuche an mir durchführen: Eine Spritze hier, eine abgeschnittene Haarsträhne da, ein Schmerztest hier, ein Reflextest da.

Ich hasse es, dass sie mir ihre widerliche Brühe einflößen müssen, wenn mein Magen knurrt, ich hasse es, dass sie mir ihr Wasser einflößen müssen, damit ich nicht verdurste, ich hasse es, dass ich mich ins Bett erleichtern und dann solange in meinem Urin ausharren muss, bis es jemand bemerkt.

Anfangs hatte ich noch das Gefühl, ich würde vor Scham sterben, und jeder würde die knallige Röte auf meinen Wangen sehen, doch da bisher noch nie ein Aufschrei kam, gehe ich davon aus, dass man mich doch nicht so genau beobachtet, wie erwartet.

Ich hasse es, dass mein Körper schwach wird und sich die Muskeln zurückbilden, ich hasse es, dass ich mich hilflos und wehrlos fühle ohne mein Eis, ich hasse es, dass ich nichts besseres zu tun habe als zu lauschen und die Sekunden zu zählen, bis ich endlich gerettet werde.

Mehr als einmal war ich kurz davor, einfach aufzuspringen und mich selbst zu retten. Irgendwie würde ich es doch wohl schaffen aus dem Schloss zu fliehen, in dem ich siebzehn Jahre meines Lebens verbracht habe! Ich kenne jeden Winkel, jede Ecke, ich weiß wo sich welche Wachposten befinden, habe mich in der Vergangenheit doch sogar schon öfters an ihnen vorbeigeschlichen, sie bestochen oder bin vor ihnen weggerannt.

Doch mit jeder Sekunde, die ich hier liege, wird mir mehr bewusst: Jetzt ist alles anders. So gut wie überall huschen und flattern Uman und sonstige, künstliche Kreaturen herum, die statt den alten Wachsoldaten eingesetzt wurden. Es gibt allgemein kaum ein menschliches Wesen mehr hier drin, wenn man von Mutter und den herumhuschenden Damen mit dem gebrochenen Geist absieht, die dem Doktor zur Hand gehen.

Der Doktor. Von allen Dingen, die ich zu hassen gelernt habe, ist die rechte Hand des Königs am verabscheuungswürdigsten. Ich habe noch genau in Erinnerung, wie er meiner schlafenden Gestalt über die Wange gestrichen hat, über die Schulter, über die Arme. Ich weiß noch genau, wie seine Hand langsam unter meine Decke wanderte, wie er im Begriff war mich in meinem augenscheinlich bewusstlosen Zustand zu betatschen. Ich habe noch genau seine widerwärtigen Verhöhnungen im Ohr, sein feuchter, abartiger Atem an meinem Hals.

Ich will mir gar nicht vorstellen, was er noch alles angestellt hätte, wenn Mutter nicht genau in dem Moment hereingeplatzt wäre und ihn so sehr mit ihrer Magie - meiner Magie - eingeschüchtert hätte, dass er es seither kaum mehr wagt, mehr an mir zu berühren als zwingend notwendig für seine Forschung.

Noch immer läuft mir ein Schauder über den Rücken, wenn ich auch nur daran denke. Aber ich weiß genau: Bevor es zu irgendetwas Schlimmerem kommen könnte, würde ich meine Deckung aufgeben und ihn umbringen, egal wie, egal was danach passieren würde. Ich würde ihn umbringen.

Nicht einmal der König selbst wird von mir mehr gehasst als der Doktor. Vater habe ich ihn in einem anderen Leben genannt. Das Monster habe ich ihn mittlerweile still und heimlich getauft. Gesehen habe ich ihn noch nicht, doch ich weiß auch so, dass er sich vollkommen verändert und alles Menschliche weit hinter sich gelassen hat. Wann immer er einen seiner Kontrollgänge durchgeführt hat, war seine Stimme nicht menschlich, sondern klackernd und kreischend und klappernd, als würde ein Skelett versuchen, normale Laute zu bilden. Seine Sprache habe ich mit der Zeit zu verstehen gelernt - immerhin gibt es ja sonst nicht viel, das ich während meines Schauspiels tun kann.

Mutter hat Wort gehalten: Das Monster hat mich bisher noch kein einziges Mal behelligt. Sicher, alle paar Tage schaut er vorbei und ich muss mich zwingen, nicht vor seiner öligen, finsteren, schaudrigen Präsenz zurückzuweichen, die noch so viel deutlicher spürbar ist als Mutters Eisaura, doch noch bin ich nicht aufsehenerregend zu Schaden gekommen.

Etwas, das sich ändern wird, sobald ich auch nur einen einzigen falschen Atemzug tue, dessen bin ich mir bewusst. Nicht nur habe ich mich an den Feuerprinzen und meinen Zwillingsbruder erinnert, und welche komplexe Geschichte die beiden verbindet, nein, ich habe mich auch an all die Stunden der Folter erinnert - sowohl die in Luna, als auch die in Sol. Ich muss selbst zugeben, ich bin überrascht, dass mich das Ganze nicht noch mehr gebrochen hat. Ich bin erstaunt, dass meine Liebe zu dem Feuerprinzen mich so weit hat wieder aufbauen können, dass ich so etwas wie Lebensfreude verspüre.

Ich weiß, das mag hart klingen - doch in Anbetracht dessen, wie hart mein Leben bisher gewesen ist, bin ich dennoch überrascht.

Die einzigen Lichtblicke sind die Stunden, in denen ich tatsächlich schlafe, in denen ich nicht schauspielern muss, in denen ich mich einfach treiben lassen und von meinen Träumen mitreißen lassen kann.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt