Einundsiebzig

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Linus

Argwöhnisch kneife ich die Augen zusammen und behalte den Dienstboten vor mir im Blick.

Lia und ich haben uns heute morgen von der Gruppe losgelöst, zumindest temporär. Ich musste heute morgen nur einen Blick in ihre Augen werfen und wusste, dass sie mit denselben Dingen zu kämpfen hat wie ich.

Rose und Tray sind beide am Leben, ebenso wie Rothaar und einige ihrer Freunde. Wir haben ihnen die ganze Arbeit überlassen: Rose und Tray kommunizieren mit den Schreckenskreaturen, wie wir ihre allgemeine Spezies getauft haben und ziehen sie auf Snows Seite, und Rothaar kümmert sich um die Kinder aus den Institutionen, die wir allesamt gefunden und befreit haben.

Alles in allem haben wir eine ordentliche Armee für Snow aufgestellt, und es gibt genügend Schiffe, um alle auch noch nach Luna zu bringen.

Lia und ich werden den anderen zu Snow folgen. Wir werden im Krieg helfen - und uns dann aus dem Staub machen, weit weit weg, wo wir in Frieden leben und alles andere vergessen werden können.

Genau aus diesem Grund sind wir gerade draußen: wir versuchen uns abzulenken und zu vergessen. Sobald wir zu lange alleine gelassen werden und keine greifbare Aufgabe haben, kommen die Gedanken - und die Erinnerungen.

Dass wir bei unseren regelmäßigen Patrouillen die Gegend auskundschaften und auf Feinde oder Neuigkeiten stoßen könnten, ist nur ein nebensächlicher Vorteil.

So wie jetzt.

Vorsichtig spähe ich um die Ecke und gebe Lia hinter mir ein Zeichen. Als sie nicht reagiert, ducke ich mich wieder hinter den Busch und wende stirnrunzelnd den Kopf. Für einen Moment erstarre ich. Sie ist nicht mehr da.

Genau in dem Moment ertönt ein gurgelndes Geräusch und ich wirbele herum. Vorsichtig spähe ich wieder auf den unebenen Weg.

Da steht sie, blutbespritzt, in ihrer einen Hand ein blutbesudelter Dolch, in der anderen eine zusammengerollte Botschaft. Ihr zu Füßen liegt der Botschafter - mit aufgeschlitzter Kehle.

Als ich sie vorwurfsvoll anstarre, zuckt sie nur mit den Achseln. "Er wäre uns nur im Weg gewesen", erklärt sie leichthin.

"Das meine ich nicht", verteidige ich mich und erhebe mich aus meiner Hocke. "Du hast dich nicht an den Plan gehalten. Das ist unverantwortlich."

Lias Augen glänzen hart. "Ich werde nicht zulassen, dass du noch einmal jemanden tötest, wenn es sich vermeiden lässt", entgegnet sie mit grollender Stimme.

"Es geht mir gut...", versuche ich dagegen zu halten, aber wir wissen beide, dass es eine Lüge ist. Die Art und Weise wie ich ausgerastet bin, als ich Iane getötet habe, verfolgt mich noch immer. Und eben dass es mich so quält, belastet Lia.

Ich seufze. "Dann lass uns einen neuen Plan entwerfen. Du kannst nicht immer voranstürmen und alles alleine erledigen."

Lia atmet geräuschvoll aus und schweigt für einen Augenblick. "Na gut - sobald wir zurück sind", gibt sie sich mit zusammen gebissenen Zähnen geschlagen. "Aber jetzt wollen wir erst einmal lesen, was unser kleiner Freund hier für eine Botschaft an sie hatte."

Noch immer kann Lia Ianes Namen nicht ausprechen. Es ruft zu viele Erinnerungen hoch - für sie. Die Ereignisse in der Arena haben sie innerlich ein zweites Mal zerbrechen lassen, so wie damals, als sie das erste Mal während ihrer Ausbildung ihre beste Freundin verloren hat.

Aber wir befinden uns beide auf dem Weg der Besserung. Langsam und mühselig, aber immerhin.

Lia hat in der Zwischenzeit die Botschaft des Diebstboten von Boden gepflückt und überfliegt die Worte. Wir haben es erfolgreich geschafft, die Neuigkeit geheim zu halten, dass Iane tot ist - oder auf welche Weise sie gestorben ist. Niemand außerhalb der Insel weiß von ihrem Ableben.

Deswegen ist es auch so einfach, diese Boten zu überwältigen, die zur Insel kommen.

"Das solltest du lesen", meint Lia schlussendlich und reicht mir den Brief.

"Ändert es etwas?", frage ich misstrauisch nach. Mir ist der zitternde Unterton in ihrer Stimme nicht entgangen.

In ihren Augen brennt ein kaltes Feuer. "Es ändert alles."

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt