Achtundsechzig

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Linus

[Lia blinzelt betont einmal. Sie ist nicht zufrieden mit dem Ganzen - aber sie sieht ein, dass sie sich damit abfinden muss.]

Iane grinst in Richtung des Tors, das wir beide nicht beachtet haben, weil wir mit unserem stummen Gespräch beschäftigt gewesen sind.

Zuerst explodiert plötzlich Dunkelheit in der Arena und mir entfuhr ein erstickter Laut, der eigentlich ein lauter Schrei gewesen wäre, wenn mein Körper nicht noch immer wie gelähmt wäre. Immerhin kribbeln meine Füße und Hände mittlerweile - und vom Gefühl her werde ich meine Zunge bald wieder mein eigen nennen können.

Dann verzieht sich die Dunkelheit ebenso schlagartig, wie sie gekommen ist, und Lia hockt auf den Knien und blickt mit tränennassem Gesicht stur geradeaus.

Ihr Gegenüber befindet sich ein kleines Mädchen mit roten Haaren, das mir bekannt vorkommt...

Am Rande der Arena erkenne ich Tray und Rose. Sie sind an einen Pfahl gebunden, wie den, den Lia genutzt hat um den Echsen-Bullen zu töten.

Die Leichen wurden übrigens inzwischen weggeschafft - ebenso wie die zersplitterten Reste des Pfahls.

Doch Rose und Tray sehen nicht mehr so aus, wie als ich sie das letzte Mal gesehen habe... Ihre Körper sind blutüberströmt und mit klaffenden Wunden übersät, die für mich stark nach Peitschenhieben aussehen.

"Runde Drei kann damit wohl losgehen", schnurrt Iane. Ihre Augen blitzen vor Vergnügen - Vergnügen auf Kosten von Lias Leid.

Lias Lippen bilden stumme Worte, immer wieder, und ich brauche einige Anläufe, bis ich sie entziffern kann: Bitte nicht.

Und in meinem Kopf erblüht eine Erinnerung: Lia und ich zu zweit in einem Boot, über uns nur der dunkle Sternenhimmel, während wir Geschichten aus unserer Vergangenheit austauschen... Und plötzlich fühlt sich meine Brust zu eng an, ich bekomme kaum Luft.

Lia musste schon einmal einen Zweikampf durchstehen wie den hier. Gegen einen Menschen, den sie sehr geliebt und bewundert hat, und den sie schlussendlich nie wieder gesehen hat...

Die Szenerie muss sich für sie wie ein Deja-vue anfühlen.

Wieder muss sie kämpfen.

Wieder in einem Zweikampf.

Wieder leiden die Menschen, die sie liebt.

Aber diesmal wird sie diese Menschen wiedersehen - dafür werde ich sorgen. Sie ist nicht alleine, sie wird es niemals sein, denn ich bin bei ihr und...

Und ich kann wieder reden. Das Kribbeln in meinem Mund ist vollends verschwunden, und ich kann wieder sprechen. "Hör auf", murmele ich mit rauer Stimme. Eigentlich wollte ich es schreien, aber mein Hals will nicht so wie ich. "Hör auf", wiederhole ich wütend. Ich will die Fäuste ballen, aber meine Hände gehorchen nicht. Zähneknirschend versuche ich es weiter, kämpfe um jeden Millimeter Bewegung.

Iane ignoriert mich. Ihr Gesicht drückt pures Entzücken aus, während sie Lias Zusammenbruch zusieht.

Rothaar dagegen blickt emotionslos und kühl drein. Sie lässt sich nichts anmerken und stellt sich breitbeinig hin. Ich erinnere mich - Rothaar besitzt Feuermagie. Aber sie zeigt gerade nicht einen einzigen Funken, sondern ballt einfach nur die Fäuste und stellt sich kampfbereit hin. "Bringen wir es hinter uns", meint sie angespannt.

Sie hätte im Nahkampf nicht die geringste Chance gegen Lia. Rothaar ist immerhin noch ein Kind, vielleicht geübt mit ihren Flammen, aber Lia... Lia ist eine lebendige Kampfmaschine, die alles in ihrem Weg vernichten könnte. Selbst mit bloßen Händen.

Und das weiß auch Iane - genau das ist ihre Absicht, wird mir bewusst. Sie will Lia dazu zwingen, Rothaar zu töten. "Was ist los, Kleine? Ich dachte dir wäre jedes Mittel recht, um mit deinem Geliebten frei sein zu können?", spottet Iane.

"Sei still", zische ich, aber wieder beachtet sie mich nicht. Mit Wut und Zorn komme ich nicht weiter. Verzweiflung macht sich in mir breit. "Bitte", stoße ich hervor und schließe die Augen. Ich weiß, dass es dumm ist, absolut bescheuert, aber ich kann es nicht länger tatenlos mit ansehen. "Bitte - hör auf, lass die beiden gehen. Ich werde alles tun was du verlangst - aber lass die beiden gehen", flüstere ich.

Es ist, als ob Iane mich gar nicht hören kann. Entweder mit meiner Stimme, mit meinem Hals und mit meinem Gehör funktioniert etwas nicht richtig - denn ich bin mir hundertprozentig sicher, die Worte ausgesprochen zu haben - oder Iane ist schlicht und ergreifend in einer Art Rausch gefangen, in der sie nichts mehr von ihrer Umwelt wahrnimmt. Ihr Blick ist fest auf Lias Gesicht geheftet.

Lia weint. Die Verzweiflung und Panik steht ihr ins Gesicht geschrieben. Noch immer hockt sie auf den Knien und flüstert stumm die zwei Worte vor sich hin: Bitte nicht.

Rothaar atmet genervt aus und schließt die Augen. "Jetzt komm schon, Lia. Ihr könntet frei sein."

Aber wenn Lia Rothaar töten würde, dann hätte Iane kein Druckmittel mehr gegen Snows Armee in der Hand... Ist Iane wirklich so verrückt und wahnsinnig, dass sie sich gegen den Befehl ihres Vaters wenden würde? Offiziell ist es ihr verboten, Rothaar bleibenden Schaden zuzufügen - oder wird sie das einfach Lia und mir in die Schuhe schieben, sollte es tatsächlich so weit kommen? Immerhin würde es ihr nicht allzu schwer fallen, den Arenakampf unter den Teppich zu kehren und sich ein Lügengespinst für ihren Vater auszudenken.

Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, ich suche verzweifelt nach einem Ausweg aus diesem Schlamassel, aber mir fällt nichts ein. Was könnte ich Iane im Gegenzug für Lias Freiheit schon anbieten? Mehr als mich selbst besitze ich nicht bei mir.

Ich versuche auch weiterhin verzweifelt, meine Hände zu bewegen. Immerhin kann ich sie mittlerweile zu Fäusten ballen, wenn auch nur unter großer Anstrengung.

Lia senkt den Kopf, zieht die Schultern hoch und schluchzt herzzerrreißend.

Das Geräusch geht mir durch Mark und Bein und ich beiße die Zähne zusammen.

Wenn Iane beschäftigt ist, dann kann ich das doch gegen sie verwenden. Ich bräuchte nur eine Waffe... Und sie hält zufällig genau die passende an meinen Hals. Aber dafür muss ich mich bewegen können, und das fällt mir noch zu schwer...

Mein Blick fliegt zu Rose und Tray. Können sie nicht vielleicht helfen? Ihre Körper zucken hin und wieder, aber da sie keine Augen besitzen kann ich nicht sagen ob sie am Leben und bei Bewusstsein sind oder ob sie mit dem Tod ringen.

Rothaar folgt dem Geräusch von Lias Schluchzern und geht auf sie zu. Kurz vor ihr bleibt sie stehen - und verpasst Lia mit ihren kleinen Kinderfäusten einen Schlag ins Gesicht.

Lias Kopf wird dadurch zur Seite geschleudert, aber ansonsten reagiert sie nicht. Sie weint einfach nur weiter - und deswegen macht Rothaar weiter.

Was genau ihr Plan ist, weiß ich nicht. Will sie etwa sterben? Will sie es Lia leichter machen? Oder will sie selbst einfach nur Frust abbauen? Ich habe keine Ahnung.

Irgendwann geht Rothaar zu Tritten über. Lias Körper sackt kraftlos zur Seite, ihre Schultern beben vor lautlosen Schluchzern.

Der Anblick ist schrecklich und mein Herz verkampft und zittert und zerrt in meinem Inneren. Alles in mir schreit danach, endlich etwas gegen diesen einseitigen Kampf zu tun.

Iane neben mir scheint jede Sekunde dagegen auszukosten. Sie hat längst vergessen, dass sie mich mit einem Messer bedrohen wollte - sie hält es noch in der Hand, aber sie hat den Arm längst sinken lassen und blickt stattdessen verzückt auf die Szenerie vor uns.

Als Rothaar einen besonders heftigen Treffer landet und Lia sichtlich zusammenzuckt, springt Iane freudestrahlend auf.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt