Dreißig

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Snow x Lucien

Ein Raum wird sichtbar - derselbe Raum, den wir uns nun als gemeinsames Schlafzimmer teilen.

Eine junge Frau in einem schlichten grauen Wollkleid steht darin, die Arme fest verschränkt. Ihr Gesicht drückt Bestürzung und Abscheu aus, ihre gesamte Körperhaltung strotzt nur so vor Ablehnung. Hinter ihr liegt vergessen ein altes, zerfleddertes Buch auf ihrem Bett - offenbar hat sie Momente zuvor noch gelesen. Ihre schneeweißen Haare schmiegen sich um ihren Rücken und reichen bis zu ihrer Hüfte, während ihre eisblauen Augen wütend funkeln.

Vor ihr steht im Türrahmen ein Mann mittleren Alters. Seine schwarzen Haare sind zu einem strengen Knoten hochgesteckt und um seinen Mund herum kann man einen harten Zug erkennen - er scheint nicht sonderlich oft zu lächeln. Der strenge Ausdruck wird von einer steilen Falte auf seiner Stirn verstärkt. Er hat das Kinn respektgebietend hochgereckt und blickt die junge Frau mit einem vernichtenden, verächtlichen Ausdruck an. Während seine eine Hand die Türklinke umklammert, ist die andere gegen den Türrahmen gestützt, als sei er jederzeit bereit, die Tür zuzuknallen, sollte die junge Frau ihm zu Nahe kommen.

Die gesamte Szenerie sieht aus, als sei die Zeit stehengeblieben - bis sie ganz plötzlich weiterläuft.

"Du wirst ihn heiraten. Punkt", knurrt der Mann mit erhobener Stimme.

"Das kannst du nicht machen! Das hast du nicht zu bestimmen, Onkel!", entgegnet die junge Frau mit bebender Stimme. Sie ist den Tränen nahe. "Mutter und Vater hätten niemals so einer erzwungenen, lieblosen Ehe zugestimmt!"

Der Blick des Mannes verfinstert sich, seine strenge Maske wird noch verschlossener. "Sie sind aber tot, versteh das doch endlich!", ruft er zurück, "Und an ihrer statt werde ich mich um dich kümmern - und du wirst mir gefälligst Respekt entgegenbringen, junge Dame!", tobt er.

"Nicht, solange du mir selbst keinerlei Respekt entgegenbringst!", murmelt sie hasserfüllt und wendet den Blick ab.

"Wie war das?", herrscht er sie an.

"Ich sagte du kannst mich mal!", ruft sie aus, dreht sich schwungvoll wieder dem Mann zu, Tränen schießen ihr in die Augen und sie deutet wütend mit dem Finger auf ihn, woraufhin sich aus dem Nichts unterarmlange, spitze Eiszapfen bilden.

Der Mann hat schnelle Reflexe. Er knallt sofort die Tür zu - keine Sekunde zu spät, denn die Eiszapfen bohren sich in das Holz und stechen auch dahinter noch hervor.

Die junge Frau bricht weinend auf dem Boden zusammen und schlingt die Arme um sich.

Das Bild friert wieder ein, zerstäubt zu winzigen Schneeflocken, und setzt sich dann neu zusammen.

Wieder ist es kurzzeitig eingefroren, sodass wir die Szenerie in Ruhe in uns aufsaugen können.

Dieselbe junge Frau von zuvor sitzt auf einem Schemel vor einem Spiegel, diesmal in ein Nachtkleid gehüllt, die Augen gerötet, die Nase knallrot, der Mund verkniffen, die Hände im Schoß gefaltet.

Hinter ihr steht eine andere Frau, etwas älter als der Mann zuvor, den die junge Frau als ihren Onkel bezeichnet hat. Die schwarzen Haare der Älteren sind bereits dabei zu ergrauen und sie sind zu einem lockeren Knoten hochgebunden. In ihren faltigen Händen hält sie eine Haarbürste, mit der sie durch die schneeweißen Haare der jungen Dame fährt. In ihren Augen stehen Mitleid und Sorge, und ihre gesamte Mimik sieht sanft und freundlich aus, was durch die leichten Lachfalten um ihren Mund und ihre Augen noch zusätzlich verstärkt wird.

Die Zeit fängt wieder an, loszulaufen.

"Niemand verlangt von Euch, dass Ihr Euch sofort damit abfinden werdet, Kind", redet die ältere Frau auf die junge Dame ein. Die einzigen Geräusche im Raum sind neben den Stimmen das leise Geräusch der kämmenden Haarbürste und das gelegentliche Schniefen der jungen Dame.

"Mein Onkel würde Euch da aber widersprechen", entgegnet die junge Dame verbittert und nestelt am Saum ihres Kleides herum.

Die Zofe schnalzt leise mit der Zunge. "Ihr müsst den jungen Prinzen ja nicht gleich lieben lernen", fährt sie ungeachtet des Einwands fort, "Es reicht fürs Erste doch schon, wenn Ihr ihn antrefft und Euch Eures Standes gemäß verhaltet."

"Aber", widerspricht die junge Dame erneut und dreht sich um, um der Zofe in die Augen zu blicken, "Was soll das denn für ein ach so hoher Stand sein? Es mag ja sein, dass meine Eltern Adelige waren, aber das ist lange her - seht Euch doch nur einmal um, wo wir uns befinden! Lebt so etwa der begehrenswerte, hohe Adelsstand?"

"Adelig zu sein bedeutet mehr, als nur in einem prächtigen Zuhause zu wohnen", tadelt die Zofe sanft und drückt die Schulter der jungen Dame, damit sie ihr wieder den Rücken zukehrt, und sie ihre Arbeit weiterhin verrichten kann.

"Mag sein", räumt die junge Dame ein, "Aber ich verstehe einfach nicht, warum die Königsfamilie ein solches Interesse an mir besitzt. Was kann ich Ihnen schon bieten? Weder besitze ich auch nur einen Quadratmeter Land, noch eine einzige Goldmünze."

Der Ausdruck der Zofe wird weicher. "Ihr habt ein schönes Gesicht", beginnt sie und fängt den Blick der jungen Dame im Spiegel auf, "Ihr habt Charakter, Ihr habt einen guten Ruf - und Ihr habt eine Gabe." Die Augen der alten Frau funkeln.

"Ich habe aber nicht darum gebeten - und wenn ich könnte, würde ich sie postwendend zurückgeben", murrt die junge Dame.

Leise lacht die Zofe auf. "Vielleicht ist der junge Prinz gar nicht so schlimm, wie Ihr in diesem Moment meint." Sie setzt die Bürste ab und bedeutet der jungen Dame, sich zu erheben. "Es könnte ja sogar sein, dass Ihr Euch nach dem ersten Blick Hals über Kopf in ihn verliebt."

Die junge Frau blickt ihre Zofe zweifelnd an, verschränkt die Arme und wendet den Blick ab. "Nun, ich schätze einem einzigen Treffen kann ich zustimmen - und wie es danach weitergeht bestimme ich danach", gibt sie sich geschlagen.

Die Zofe grinst. "Das ist die richtige Einstellung, Kind. Und vergesst nicht", sie zwinkert, "Ihr werdet nicht alleine sein. Ich begleite Euch doch schließlich."

Die junge Dame knickst lächelnd. "Und dafür werde ich Euch äußerst dankbar sein." Dann grinst sie breit und fügt hinzu: "Wer weiß, vielleicht beschließe ich auch mittendrin, dass ich keine Lust mehr habe, die höfliche Marionette meines Onkels zu spielen, und zeige dem jungen Prinzen und seiner Familie meine ach so begehrenswerte Gabe."

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt