Fünfundvierzig

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Snow

"Das wievielte Stück ist das jetzt?", wendet sich Lucien fragend an mich.

Leise seufze ich und drehe mich auf den Bauch, ehe ich meinen Kopf auf meine Arme stütze. "Das Fünfundvierzigste, wie du sehr wohl weißt", antworte ich und verdrehe die Augen. Er beäugt jedes einzelne seiner Werke mit solchen Argusaugen, dass es keine Möglichkeit gibt, wie er sich jemals verzählen könnte, und trotzdem stellt er andauernd die selbe Frage.

"Wie laufen die Verhandlungen mit dem Herzog?", übergeht er meine Aussage einfach. Das Hämmern und Klappern seiner Werkzeuge ist das einzige Geräusch in der aufgeheizten Werkstatt.

Allein schon bei dem Gedanken an die ewig langen Sitzungen verzieht sich mein Gesicht automatisch zu einer Grimasse. Bei einem ebendieser Treffen bin ich bis vor einer halben Stunde noch gewesen, und danach hat mein Kopf derart geraucht, dass ich hier hinaus gestiegen bin, in der Hoffnung, der kalte Wind könnte meinen Kopf freipusten. Als ich dann das Hämmern aus der Werkstatt gehört und Luciens roten Haarschopf hier drin gesehen habe, bin ich kurzerhand hereingeschlüpft und habe es mir auf einem der Sofa bequem gemacht, die irgendjemand mal hierher geschafft hat.

"So schlimm?", gluckst Lucien nach einem Seitenblick auf mein Gesicht und arbeitet ohne inne zu halten weiter.

"Ja, so schlimm", verdrehe ich die Augen und drehe mich wieder auf den Rücken.

Er vertraut uns eben nicht.

Und das auch gerechtfertigt - ich bin mittlerweile wirklich versucht, ihn kurzerhand zu einem Eisblock erstarren zu lassen.

Lucien zieht überrascht die Augenbrauen hoch, um seine Mundwinkel tanzt ein Lächeln. Sein Leibwächter macht dich offenbar nicht im Geringsten nervös.

Wieso sollte er auch? Er wäre erstarrt, noch bevor er seine Waffe ziehen könnte, runzle ich die Stirn und strecke mich. Und wenn du dich bei diesen Treffen öfters blicken lassen würdest, würdest du mir da ohne zu zögern zustimmen.

Daran habe ich auch so nicht den geringsten Zweifel, erwidert Lucien trocken. Dann wird sein Gesicht ernst. Wir haben keinen einzigen Schmied außer mir in unserer gesamten Armee und unser Gold ist ebenfalls streng limitiert, das weißt du. Ich werde hier mehr gebraucht als in diesen Sitzungen.

Ja ja, und wir haben Glück, dass Cheri in den unteren Stockwerken dieses Zeug ausgegraben hat, das sich hervorragend für Waffen eignet, winke ich ab. Das musste ich mir jetzt schon oft genug anhören. Wie genau habt ihr es noch einmal geschafft, dass sie dort unten mit diesem Schrank von Mann zusammen arbeitet, ohne ihn gleich in der Luft zu zerreißen? Jedes Mal, wenn ich die beiden sehe, scheint es sie geradezu in den Fingern zu jucken, ihn schnellstmöglich unter die Erde zu bringen.

Von wem mir das wohl bekannt vorkommt, schüttelt Lucien trocken den Kopf, und als ich ihm empört einen Tritt gegen das Bein verpasse, verwandelt sich sein anfänglich kleines Lächeln in ein breites Grinsen und in seinen Augen tanzt der Schalk. Vorsicht, Flöckchen, ich merke mir jede noch so kleine Gemeinheit von dir, um sie dir später doppelt zurückzuzahlen.

Ich spüre sofort, wie meine Wangen heiß werden. Neuerdings ist der Umgang zwischen uns so viel... leichter. Unbefangener. Seit jenem ersten Mal teilen wir jede Nacht das Bett, und oft sind wir beide so müde, dass wir sofort einschlafen, kaum dass wir die Augen geschlossen haben, aber die Nächte, in denen wir beide noch genug Energie haben...

Mein Magen zieht sich vor Lust zusammen. Es gibt so vieles, das wir noch nicht ausprobiert haben, so viele Dinge, die mir Lucien in diesem Gebiet noch zeigt, und ich bin begierig, ja geradezu süchtig danach, alles davon kennenzulernen. Und dem amüsierten, wilden Ausdruck in Luciens Blick zufolge ist er ein mehr als williger Lehrer.

Trotzdem fällt mir keine passende, schlagfertige Antwort ein, die ich ihm geben kann. Seine Worte haben etwas in mir zum Stolpern gebracht, wodurch mir alle Worte zu weit entfernt scheinen, als dass ich einen Ton herausbringen könnte.

Gewissermaßen könnte man von Glück reden, dass ich aus dieser Situation befreit werde - aber ich bin noch unschlüssig ob mich Glück oder Unglück erwarten.

Denn genau in diesem Moment schlittert eines der Kinder aus Fire und Anns Trupp in die Werkstatt hinein, ihr Blick hektisch, ihre Augen weit aufgerissen. "E- Eine Nachricht, My- Mylady", beginnt sie zu stottern.

Sofort bin ich auf den Beinen und in Alarmbereitschaft. Lucien lässt langsam den Hammer sinken, mit dem er gerade noch an der nächsten Waffe herumhantiert hat. Ungeduldig winke ich ab, als sie zu einem Knicks ansetzt. Für solche Formalitäten ist gerade keine Zeit. "Was gibt es?"

"Cheri, Mylady", blinzelt das Mädchen hektisch und ihre Stimme zittert wie verrückt, vermutlich von einem Schock, "Sie- Sie ist noch nicht wieder da, obwohl sie es längst hätte sein müssen."

Unterschiedliche Szenarien und Möglichkeiten wirbeln durch meinen Kopf, schließlich ist meine Mutter in dieser Festung aufgewachsen wie in einem goldenen Käfig, der von ihrem Onkel - einem Mistkerl aller erster Güte - immer enger gezogen worden ist, und wenn mein Vater schon dem Wahnsinn anheim gefallen ist, und der Onkel meiner Mutter stets versucht hat, ihm in den Hintern zu kriechen, dann könnte er hier allerhand Schrecken versteckt haben, und was wenn Cheri etwas zugestoßen ist, Cheri verirrt, Cheri verletzt, Cheri gefoltert, Cheri tot...

"Wo war sie zuletzt?", springt Lucien für mich ein und stützt mich mit einer Hand an meinem Rücken, als er merkt, dass meine Beine kurz davor sind, nachzugeben. Dankbar nicke ich ihm kurz zu und kämpfe mich innerlich durch die Panik.

"Sie war- war in den unteren Stockwerken, Sir", antwortet das Kind, "S- Sie meinte, sie wolle heute noch tiefer in die Kellergewölbe der Festung hinabsteigen, und wenn sie nach einer Stunde nicht wieder da sei, solle ich Euch bescheid geben." Ihr Blick irrte zu mir.

Mittlerweile bin ich wieder so weit bei Sinnen, dass ich selbst stehen und denken kann. "Was ist mit dem Schrank." Es ist weniger eine Frage als viel mehr ein Mix aus Feststellung und Befehl, aber das Kind scheint es nicht zu bemerken.

Verwirrt blinzelt mich das Mädchen an. "Wenn ihr den großen Mann meint - der ist mit ihr zusammen hinabgestiegen."

Ich unterdrücke einen Seufzer der Erleichterung und atme stattdessen tief durch. Cheri ist nicht alleine, der Schrank ist bei ihr. Diese Information dringt klar und deutlich zu mir durch.

Beruhigend schiebt sich Luciens Hand in meine. Vielleicht hat sie unten etwas gefunden und die Zeit vergessen.

Wollen wir hoffen, dass es so ist, antworte ich mit angespannter Stimme und drücke seine Hand. Und zu dem Kind sage ich: "Führ uns dorthin."

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt