Sechsundsiebzig

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Snow

Müde schrecke ich aus meinen Träumen hoch und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Als ich die Hände seufzend wieder sinken lasse, zucke ich erschrocken zusammen. Direkt vor mir steht Fire und blickt mit undefinierbarem Blick auf mich hinab. Sie sieht abwesend aus, als wäre sie gar nicht richtig anwesend, aber schon in der nächsten Sekunde blinzelt sie und sieht genauso aus wie immer. "Guten Morgen, Dornröschen", schmunzelt sie und kniet sich neben mich. In ihren Händen befindet sich ein dampfender Becher. "Hier, eine kleine Aufmerksamkeit von unseren neuesten Freunden", nickt sie zu dem heißen Gefäß, das sie mir, kaum dass ich sitze, in die Hände drückt.

Vorsichtig, um mich nicht zu verbrennen,  nippe ich daran und sofort breitet sich eine angenehme Süße in meinem Mund aus, die mir einen neuerlichen Seufzer entlockt. "Dornröschen?", hake ich dann fragend nach.

Fire winkt ab, steht auf und wischt sich die Hände an ihrem Gewand ab. "Nur ein Märchen, von dem Linus uns gestern lautstark erzählt hat, nachdem alle ein gutes Stück getrunken hatten." Aufmerksam hält sie inne und dreht sich noch einmal zu mir um. Ihr Blick liegt neugierig auf meinem Gesicht und springt von einem Auge zum anderen. "Gehts dir eigentlich gut? Du bist ziemlich blass. Ich hoffe, dein nächtlicher Besuch hat dich nicht zu lang wachgehalten?"

"Woher weißt du...", setze ich an, doch schon im nächsten Augenblick fällt mein Blick auf die zerwühlten Decken und Kissen und Laken, in denen Lia und Ann und ich uns gestern Nacht noch getummelt haben. Offenbar sind sie bereits vor einer ganzen Weile wieder in ihre Zelte zurückgekehrt. Die leichte Schärfe in Fires Tonfall ist mir nicht entgangen, und auch so weiß ich, wie das alles wohl auf einen Außenstehenden wirken muss.

Immerhin habe ich gestern vorgegeben, zu müde und erschöpft zu sein, als dass ich mit den anderen beisammen sitzen wollte, und dennoch hatte ich offensichtlich nächtlichen Besuch gehabt, mit dem ich sonst was hätte anstellen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.

"So war das nicht", erwidere ich, ebenso gereizt und nippe ein weiteres Mal an meiner Tasse. Die Süße beruhigt mich sofort wieder. "Es war nur Ann. Sie hatte--", stocke ich. Anns erste Vertrauensperson der letzten Tage war immer Fire gewesen. Wenn sie gewollt hätte, dass Fire von ihren Sorgen weiß, dann hätte sie sich selbst an sie gewandt - oder würde ihr noch früh genug davon erzählen. Ich hatte kein Recht, mehr zu offenbaren als Ann selbst bereit war zuzugeben. "Sie hatte einiges auf dem Herzen, das sie sich von der Seele reden musste", weiche ich also stattdessen aus und blicke auf die sich leicht kräuselnde Oberfläche der Tasse. Meine eigenen, müden Augen blicken mir mit einer Sanftheit entgegen, die ich selbst nicht mehr bei mir vermutet hätte.

Fire schweigt eine halbe Ewigkeit und niemand von uns beiden rührt sich. Um die Stille nicht zu erdrückend zu empfinden, trinke ich immer größere Schlucke - und verbrenne mir prompt die Zunge. Zischend verziehe ich das Gesicht und lasse die Tasse sinken.

Als ich aufblicke, lauert wieder dieses dunkle Etwas in Fires Blick, und es dauert einen Moment bevor ich die Emotionen auf ihrem Gesicht klar entschlüsseln kann: Sorge, Gekränktheit, Mitleid und Hass. Realer Hass, nicht bloß Wut oder Zorn oder Abneigung - nein, es ist Hass, der ihre Züge verunstaltet. Und er richtet sich mit jeder Faser seines Seins auf mich.

Je mehr ich mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren versuche, desto mehr verschwimmt das Bild vor meinen Augen, ich sehe sie gedoppelt und verdreifacht, ihre Konturen verschwimmen und scheinen zu flirren. "W-was hast du...?", murmele ich, meine Zunge fühlt sich bleischwer und wie betäubt an. Automatisch fängt mein Körper an dagegen anzukämpfen, ich stoße die heiße Tasse von meinem Schoß und der Inhalt ergießt sich halb auf meiner Decke, halb auf dem Boden, ich kralle meine Finger in die Kissen und versuche mich aufrecht zu halten, doch ich kann meinen bleischweren Körper nicht halten und sinke gegen meinen Willen zurück.

Die Tasse. Der Tee. Sie hat irgendetwas hineingetan...

Fire tritt wieder in mein Blickfeld, so wie sie dagestanden hatte als ich aufgewacht war, und das Lächeln, das jetzt auf ihren Lippen erblüht, ist so abstoßend und grausam, dass es mich kalt überläuft. "Schh", macht sie beinahe liebevoll, kniet sich hin und streicht mir über die Haare. Die Berührung ist mir zuwider, doch ich bin zu schwach um mich dem entziehen zu können. "Du hast dich bereits viel zu sehr in unser Leben eingemischt", säuselt sie. "Es wird Zeit für dich, eine Weile zu schlafen. Und wenn du wieder aufwachst, ist alles wieder in Ordnung, die Welt wieder heile und du wieder dort, wo du hingehörst."

"Luschien wird das nischt zulaschen...", lalle ich mühsam und zwinge mich, meine Augen offen zu halten, auch wenn das Bedürfnis sie einfach wieder zu schließen übermächtig ist. "Niemalsch..."

Fire schnaubt. "Lucien wird noch ein paar Stunden brauchen, bis er nach dem ganzen Alkohol von letzter Nacht wieder wach ist - und dann wird die Welt längst eine viel bessere geworden sein."

"N-nein...", hauche ich mühsam und beiße mir auf die Unterlippe, um mich wach zu halten. Es hilft, aber nur ganz kurz. Es gewährt mir nur ein paar wenige Sekunden Aufschub, die ich mit einem einzigen, letzten, tiefen Atemzug vergeudet habe, noch bevor ich mir dessen bewusst bin.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt