Vierundsechzig

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Snow

Seufzend blicke ich auf den Stapel vor mir hinab. Während Lucien sich um das Koordinieren und Befehle erteilen kümmert, trägt Freedom die Verantwortung für all die Verhandlungen und Meetings - woraus folgt, dass der ganze Papierkram an mir hängen geblieben ist.

Seit heute Morgen schiebe ich diese Arbeit nun schon vor mir her und habe mich mit den banalsten Dingen abzulenken und mir selbst gegenüber herauszureden versucht - aber damit muss nun Schluss sein.

Genau in dem Moment wird die Zeltklappe meiner neuesten, temporären Unterkunft zurückgeschlagen und überrascht blicke ich auf. "Ann ist nicht hier", wende ich mich wieder dem Stapel zu - meinem neuesten Erzfeind.

"Gut. Ich will nämlich allein mit dir sprechen", erwidert Fire und stützt sich mit dem Armen auf der Tischplatte ab - genau links und rechts von dem Papierstapel.

Innerlich lächle ich dem Papier grimmig zu. Ich habe wohl eine neue, dringendere Aufgabe gefunden, die absolute Priorität vor dem Papierkram inne hat.

Stirnrunzelnd hält Luciens kleine Schwester inne und blickt sich argwöhnisch um. "Ich weiß, dass das Zelt nur provisorisch aufgebaut ist - immerhin ziehen wir langsam gen Hafen um nach Sol übersetzen zu können - aber habt ihr schonmal daran gedacht, hier ordentlich zu lüften?", hebt sie mit einer Grimasse eine Augenbraue. "Alles hier drin stinkt geradezu danach, dass mein Bruder und du es hier drin getrieben habt", wedelt sie sich vor der Nase herum, "Igitt."

Für eine Sekunde blicke ich sie mit großen Augen an, dann lache ich laut drauf los. "Wenn ich mir so ansehe, wie rot Ann die ganze Zeit wird wann immer ich in eurem Zelt bin, dann geht es bei euch wohl nicht anders zu", grinse ich wie eine Katze, die gerade an der Sahne genascht hat.

Fire öffnet empört den Mund, blinzelt und schließt ihn dann unverrichteter Dinge wieder. Ihr Gesichtsausdruck ist gold wert - eine Mischung aus Scham, Empörung, Stolz, Amüsanz und Schock.

"Jedenfalls", wechselt sie das Thema und klopft mit den Fingern auf die Tischplatte um mich wieder in die ernste Lage zurückzuholen, "habe ich einige Dinge mit dir zu besprechen." Wieder ein argwöhnischer Blick, doch diesmal aus gänzlich anderen Gründen. "Diese Freya hoppst hier doch nicht gleich wieder rein, oder? Sie hängt ja seit der Schlacht von Su'ul wie eine Klette an dir."

Ihr Tonfall bringt mich dazu, mich höher aufzurichten. "Erstens, Freedom hoppst nicht", zähle ich mit unterkühlter Stimme auf, "und Zweitens, wenn du noch einmal so herablassend über sie sprichst, werde ich dir eigenhändig die Zunge herausreißen, unabhängig von deinem Familienbonus, verstanden?"

In ihren Augen tanzt eine ähnliche Flamme wie in Luciens - muss wohl so eine familiäre Erbschaft sein, wann immer sie wütend werden - aber sie ist klug genug, um meine Worte ernst zu nehmen. "Wie blutrünstig, liebste Schwägerin", entgegnet sie scharf.

Dann räuspert sie sich und von einem Moment auf den nächsten ist der zornerfüllte Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwunden. "Deswegen bin ich nicht hier", seufzt sie und wandert ziellos durch das Zelt während sie sich über das Gesicht streicht. "Tut- Tut mir leid", stößt sie dann hervor und ich kann hören, wie schwer ihr die Worte über die Lippen kommen. "Lass uns einfach... noch einmal von vorne anfangen, okay?"

"Gut", seufze ich. Bei aller Liebe - es wäre sowohl in Luciens als auch in Anns bestem Interesse, wenn ich mich mit Fire... gut verstehen würde. Versöhnen klingt zu kindisch, und vertragen zu harsch. Immerhin haben wir nie wirklich großartig... gestritten.

Sicher, es gibt Meinungsverschiedenheiten und kleinere Auseinandersetzungen - aber alles in allem kann man das nicht streiten nennen. Zumal wir privat - außerhalb des ganzen Krieg-Dramas - bisher kaum mehr als ein Dutzend Wörter gewechselt haben, auch wenn Ann noch so oft versucht hat uns dazu zu animieren. Ich weiß nicht ganz wie ich in Worte fassen soll, was zwischen uns steht - und nicht nur zwischen Fire und mir.

Haben sich Fire und Ann doch recht gut mit den anderen abfinden können, so fällt das Verhalten beider gegenüber Freedom mehr als frostig aus. Genauer gesagt scheint Ann in ihrer Nähe angespannt und verkrampft zu sein, und dieses Verhalten lässt Fires Alarmglocken schrillen - was zur Folge hat, dass jedes Aufeinandertreffen der Drei im Prinzip ein Pulverfass ist, das jeden Moment hochgehen könnte.

"Also", falte ich die Hände und lehne mich zurück, "was gibt es, Fire?"

Sie atmet geräuschvoll aus und starrt für einen Moment auf den Tisch, ehe sie meinem Blick begegnet. "Wie kommst du mit allem zurecht? Ich meine, mit dem Krieg, mit meinem Bruder, mit der Wahrheit über deinen Vater und dich und Lucien..." Nachdenklich wandert ihr Blick zu meinem Herzen. "Hat sich Cynthia seitdem jemals wieder gemeldet?", hakt sie leise nach.

Verdutzt blinzle ich sie an. Von all den Themen hätte ich am wenigsten damit gerechnet. "Es geht, würde ich sagen", antworte ich schließlich schulterzuckend und lege den Kopf schief. "Ich will das alles nur noch hinter mich bringen. Und Cynthia... schweigt seitdem. Ich glaube sie... schlummert", versuche ich das schwer zu beschreibende Gefühl in meinem Inneren in Worte zu fassen. "Sie sammelt Kraft um es mit... dem König aufnehmen zu können."

Fire nickt erleichtert. "Das ist schön zu hören", antwortet sie kurz angebunden. Ihre Augen glänzen leicht. "Ann... Sie macht sich Sorgen. Um dich, aber auch...", Fire räuspert sich, "Um Cynthia. Zwar ist sie rein biologisch gesehen nicht ihr wirkliches Kind, aber sie... macht sich dennoch Gedanken über Cynthia. Wie es wäre, wenn sie noch", sie macht eine vage Handbewegung, "am Leben wäre. In einem eigenen Körper. Wie es wäre sie zur Mutter zu haben."

Das habe ich nicht gewusst, aber ich habe ehrlich gesagt auch nicht darüber nachgedacht. Zu viel ist passiert in letzter Zeit.

Aber wie oft habe ich früher in meinem Bett gelegen und über Mutter phantasiert? Wie oft habe ich mir vorgestellt, Ice Arme damals wären die meiner Mutter gewesen, und wie oft habe ich mir gewünscht, sie könnte mir eines ihrer Lieder selbst vorsingen, statt sie nur von ihren früheren Dienerinnen hören zu können?

"Es ist wie es ist - Aber Cynthia betrachtet Ann ebenfalls als ihr Kind", entgegne ich schließlich mit belegter Stimme. "Sie liebt sie genauso wie sie mich oder Ice geliebt hat, und sie hat ebenso für ihre Sicherheit gekämpft."

In Gedanken habe ich wieder die Situation in der Festung vor Augen - diese Kammer in meinem Inneren, in der ich von Cynthia und meinem Gewissen gefoltert worden bin. In der ich mich selbst gefoltert habe. Wie der Uman in mein Zimmer eingedrungen ist, und wie Ann gegen ihn gekämpft hat. Wie Cynthia die Kontrolle über meinen Körper übernommen und die Bestie angeschlachtet hat, um Ann zu retten. Um sie zu schützen.

"Danke", murmelt Fire. "Das werde ich Ann ausrichten." Wieder räuspert sie sich. "Da wäre noch etwas - es geht um meinen Bruder." Verlegen kratzt sie sich am Hinterkopf und weicht meinem Blick aus.

"Ich bin nicht gut in sowas... Ich weiß nicht ganz wie ich das formulieren soll", zuckt sie mit den Achseln. "Aber er- er kann ein ganz schöner Idiot sein, und er wird dich sicherlich mehrfach bis zur Weißglut reizen, und ihr werdet sicher öfters streiten und euch gegenseitig in den Wahnsinn treiben, aber...", sie seufzt, "Er ist ein anständiger Kerl. Und so verliebt wie mit dir habe ich ihn noch nie erlebt. Er meint es wirklich ernst mit dir, und du scheinst es auch zu tun und..."

Sie stöhnt frustriert auf. "Ach, scheiß drauf", zischt sie und ihre Augen blitzen. "Kümmer dich gut um ihn. Beschütz ihn - notfalls mit deinem Leben. Er ist unverzichtbar - für mich, und für die ganze Welt - und sein Verlust... Es wäre eine Schande, wenn du statt ihm den ganzen Mist hier überleben würdest - nichts für ungut, es ist nur..."

"Ich weiß", murmele ich. "Ich werde nicht zulassen, dass er sich für mich opfert, auch wenn er das vermutlich sogar wünscht. Wenn es zur Entscheidung kommen sollte, werde ich mich immer für ihn und sein Wohl entscheiden - und dasselbe gilt für Ann."

Fire nickt energisch. "Schön dass wir uns da verstehen", lächelt sie sanft, "und noch einmal: Wirklich nichts für ungut. Ich liebe meinen Bruder einfach sehr und...", sie kaut auf ihrer Unterlippe herum, "sein Verlust würde mich zugrunde richten. Auch wenn das Ann gegenüber unfair und egoistisch erscheinen mag - wenn ich wählen müsste ob du oder Lucien überleben sollen, dann würde ich meinen Bruder wählen", gesteht sie zerknirscht.

Nun muss auch ich lächeln. "Ich verstehe schon, wirklich." Und mit einem schelmischen Grinsen füge ich hinzu: "Wenn ich zwischen dir und Ann wählen müsste, würde ich mich auch für Ann entscheiden."

Daraufhin müssen wir beide lachen.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt