Dreizehn

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Snow

Keuchend hänge ich noch immer in den Ketten.

Die Frau vor mir lächelt mich an. Ich kenne sie - sie sieht genauso aus wie ich.

Cynthia.

Mutter.

Sie hält mein Kinn in einer ihrer eiskalten Hände und zwingt mich so, sie anzusehen. Dabei schneidet sie mir mit ihren langen Fingernägeln leicht in die Wange und hinterlässt brennenden Schmerz, der jedoch nichts ist im Vergleich zu dem, der noch immer in Wellen in mir nachhallt.

Leise fallen meine Tränen auf den Boden, der so weit entfernt zu sein scheint.

Mutter...

Wir sind uns nie begegnet.

Wir kennen uns nicht.

Und doch habe ich so viele Geschichten von den Bediensteten über dich gehört, so viele deiner Lieder gelernt, so viele Briefe erhalten, die du geschrieben hast, bevor Ice und ich geboren wurden.

Du bist bei unserer Geburt gestorben - und du wusstest es bereits im Voraus.

Du hast uns so vieles hinterlassen, und doch ist es gar nichts.

Dich jetzt vor mir zu sehen...

Stumm tropfen meine Tränen weiter, begleitet von dem schwarzen Blut, das aus der wunden, aufgerissenen Haut meiner Handgelenke stammt.

Du lächelst mich mit deinen blutroten Lippen an. Dein schneeweißes Haar ist genauso wie meins, besitzt dieselbe Länge, denselben Farbton, dein Gesicht sieht identisch aus... Bis auf deine Augen. Sie sind pechschwarz und funkeln und wirken... übernatürlich. Beängstigend.

Du bist meine Mutter - ich spüre das Band zwischen uns, das Gefühl von Bekanntschaft. Und doch ist es so, als wärst du nicht real. Als wärst du nicht du, sondern... ich.

"Wie erbärmlich du doch bist", schnaubst du und deine Worte hinterlassen einen Stich in meinem Inneren. Eine weitere unsichtbare Lanze, die mein Herz seit Ice Tod einstecken muss. "Du hättest so viel Potenzial gehabt...", murmelst du und lässt deine Hand zu meinem Hals hinabgleiten, "... wenn du doch nur nicht so idiotisch wärst, den Toten hinterher zu trauern."

Deine Nägel schaben schmerzhaft über meine Haut und jedes deiner Worte trifft mich wie eine weitere Waffe.

Dieser Schmerz ist schlimmer.

Sehr viel schlimmer als alles davor.

Es fühlt sich an... als würde mein Herz brechen. Es ist sogar noch schlimmer als der Schmerz, den ich durch Ice Tod empfunden habe.

Warum?, will ich fragen. Warum tust du das? Warum bist du so grausam?

"Ice ist tot", kommt stattdessen ungewollt mit monotoner Stimme aus meinem Mund. Ich habe das Gefühl, keine Kontrolle mehr über meinen Körper zu haben.

Du schnalzt mit der Zunge und deine Hand legt sich um meinen Hals. "Na und? Sei doch froh - seine Macht ist in dem Moment seines Todes auf dich übergegangen. So viel Macht... Du könntest damit ganze Städte vernichten, ein Massaker nach dem anderen veranstalten... und du würdest nicht müde werden." Du grinst böswillig. "Wenn du deine Macht annehmen würdest, wenn du diese dümmlichen Barrieren durchbrechen würdest, die du aufgestellt hast, wenn du dich gehen lassen würdest und die Kontrolle aufgeben würdest, dann könntest du alles anstellen, was du willst, ohne je zu ermüden."

Dein Griff wird fester und du drückst zu. "Du dummes Kind", zischst du und lächelst giftig, "Wegen dir bin ich immer noch hier drin eingesperrt. Warum gehst du mir nicht einfach endlich aus dem Weg und lässt mich wieder die Oberhand gewinnen?"

Ich kriege keine Luft mehr, und meine Kehle brennt wie Feuer. Hilflos zappeln meine Beine in der Luft und zerren kraftlos an den Ketten, die mich festhalten - und durch den Widerstand noch tiefer in meine ohnehin schon wunde Haut schneiden. "Warum lässt du nicht einfach zu, dass deine Seele zersplittert, und ich zurücknehme, was rechtmäßig mir gehört?" Deine Worte klingen wie aus weiter Ferne, ich merke, wie ich mich distanziere, wie mein Sichtfeld sich blutrot färbt...

Ein Schrei erklingt, wieder und wieder.

Ich kenne die Stimme, kenne sie aus der Vergangenheit, aus einem anderen Leben, aus einer anderen Zeit...

Sie ist verbunden mit Liebe, Zuneigung, Angst und Furcht. Schmerz und Folter. Flammen... und Eis. Lapislazuli und Ketten.

Annrhia. Meine kleine Schwester. Der Name durchflutet mich, erschüttert mich. Sie ist in Schwierigkeiten.

Ihre Stimme verschwindet außer Reichweite... und mein Geist kehrt zurück zu Mutter.

Ihr Griff um meine Kehle hat sich gelockert und ich nutze die Chance, um sie in den Arm zu beißen. "Ich gebe nicht kampflos auf", knurre ich heiser und spüre, wie ein wenig Kraft in meinen Körper zurückkehrt.

Sofort zieht sie kreischend die Hand zurück, wirbelt zu mir herum und funkelt mich hasserfüllt an. "Du kleines, ungehorsames..."

Etwas anderes zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich und für den Bruchteil einer Sekunde kann ich unter ihre Maske blicken. In ihrem Blick liegen Liebe, Mitleid, und Verzweiflung. Der Blick einer Mutter, die ihr Kind beschützen will. Und nur für diesen winzigen Augenblick sind ihre Augen nicht länger pechschwarz - sondern eisblau, wie meine.

Die Szenerie um uns verändert sich, der pechschwarze Nebelschleier verschwindet.

Ich erhasche einen Blick auf gefrorene Wände, Eiszapfen und spiegelglatte Eisflächen, ehe ein strahlendes Licht mich blendet. Es ist, als würde ich durch ein Fenster blicken - direkt in die Realität hinein, gemeinsam mit Mutter.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt