Vierundzwanzig

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Lucien

Kaum dass ich den Versammlungssaal betreten habe, blicken mir vier breit grinsende Gesichter entgegen, die ich allesamt mit einem finsteren Blick bedenke. Es scheint, als hätten Fire und Ann weitererzählt, warum ich zu spät gekommen bin.

Nicht, dass ich wirklich wütend auf sie wäre oder es ihnen übel nehmen würde. Nein, ich finde die Situation eigentlich recht amüsant - vor allem, dass sich alle so darüber zu freuen scheinen, dass ich mich Snow wieder annähere. Aber wenn ich das geradeheraus so zugeben würde - wo bliebe dann der Spaß?

"Da wir ja jetzt alle endlich alle versammelt sind", beginnt Cheri grinsend und zwinkert mir zu, nachdem ich mich auf meinen Platz gesetzt habe, "Können wir endlich über all das reden, was sich angestaut hat."

Fragend blicke ich sie an, mein gespielter Ärger wie weggeblasen.

Fire räuspert sich und lehnt sich nach vorne. "Ich denke, es ist an der Zeit, dass du dich endlich der Realität stellst und die Wahrheit erfährst, Lucien."

Der Hintergrund. Warum Snow sich verhält, wie sie sich verhält - oder besser gesagt, sich nicht verhält. Was Fire damit meinte, als sie mir am Tag von Snows Zusammenbruch sagte, Snow und ich seien nicht die, die wir zu sein glauben.

Aber genau deswegen... Nacheinander blicke ich den Mitgliedern der Platineinheit nachdenklich ins Gesicht. Innerlich schnaube ich. Das klingt so hochtrabend - als seien wir mehr als fünf Leute in diesem großen Raum, und als seien wir uns alle so fremd. Dabei sind wir wie eine kleine Familie. Eine Familie, die durch Snow komplettiert werden würde. Eine Familie, die von Snow ins Leben gerufen wurde. Eine Familie, die nur um ihrer Willen zusammenhält.

Ohne Freedom und ihre enge Bindung zu Snow wäre Hugo nicht hier.

Ohne ihre gemeinsame Zeit wäre Cheri nicht hier.

Ohne Snow wäre Ann nicht hier.

Ohne mich und Ann wäre Fire nicht hier.

Und ohne mein enges Verhältnis zu Snow wäre ich nicht hier.

Was wäre nun aber, wenn die Realität, der ich mich gemeinsam mit Snow zu stellen habe, so schrecklich wäre, dass sie das Vertrauen und die Bindungen jedes einzelnen hier zu Snow erschüttern würden? Was, wenn die Wahrheit so endgültig und schockierend wäre, dass sich alle hier von Snow abwenden würden?

Ich würde gerne glauben, dass das niemals passieren könnte. Dass die Bande zwischen Snow und ihrer selbst geschaffenen Familie so stark wären, dass nichts und niemand sie entzweien könnte.

Aber was, wenn ich mich da irre? Ich habe es auch für unwahrscheinlich gehalten, dass die Person in Snow bei meinem Besuch vor mehreren Stunden aufwacht.

"Was das betrifft...", setze ich an und lehne mich auf meinem Stuhl zurück, "Diese Wahrheit, von der du sprichst, betrifft Snow und mich gleichermaßen. Habe ich das richtig verstanden?" Fire runzelt die Stirn und nickt. "Naja, Snow ist derzeit nicht in der Lage auszusagen, ob sie bereit ist oder nicht", fahre ich gedehnt fort. Fires Runzeln verstärkt sich und sie hebt fragend eine Augenbraue. "Ich würde ganz gerne diese sogenannte Wahrheit zuerst persönlich erfahren, damit Snow später selbst entscheiden kann, wem sie sie anvertrauen will - wem gegenüber sie sich öffnen will, mich selbst eingeschlossen", falle ich seufzend mit der Tür ins Haus. "Gäbe es einen Weg, mir privat nur den Part zu erzählen, der mich betrifft, und Snows Hintergrund wegzulassen?", schneide ich eine Grimasse.

Fires Stirn glättet sich wieder, Verständnis blitzt in ihren Augen auf und mit gespitzten Lippen lehnt sie sich wieder zurück. Nachdenklich wippt sie mit ihrem Fuß auf und ab, während sie zu überlegen scheint.

Die Sekunden scheinen sich im absolut stillen Raum quälend hinzuziehen, bis Fire endlich wieder das Wort ergreift. "Nein." Sie schüttelt den Kopf. "Eure beiden Geschichten sind zu verschlungen, um getrennt erzählt werden zu können. Allerdings ließe es sich einrichten, dass wir..." Sie verstummt plötzlich und runzelt wieder die Stirn. Ihr Blick schnellt zu Ann herum, die seelenruhig lächelt. Offenbar kommunizieren die beiden gerade telepathisch.

Nach einer Weile schnaubt Fire und drückt lächelnd Anns Hand.

Skeptisch hebe ich eine Augenbraue und warte ab. Ich bin hin und hergerissen, ob ich die beiden nun wieder auf die Situation aufmerksam machen sollte, weil mich schon brennend interessiert, was Fire vorschlagen wollte, oder ob ich den beiden Zeit lassen sollte. Vielleicht handelt es sich ja um etwas wichtiges. Andererseits, dieses Thema hier scheint auch sehr wichtig zu sein...

Ann befreit mich aus meiner inneren Krise, indem sie endlich das Schweigen bricht. "Es gibt einen Weg, wie du und Snow zeitgleich die Wahrheit erfahren könnt - trotz Snows Zustand." Ihr Lächeln wird breiter. "Es ist das gleiche Prinzip, mit dem ich Snow zu behandeln versuche, nur, dass es durch dich eine stark erhöhte Erfolgsquote besitzt. Nach der Versammlung können wir meinetwegen sofort anfangen."

Zustimmend nicke ich und will gerade mental dieses Thema von der Liste der zu besprechenden Themen streichen, als mir einfällt, dass wir mehr als nur drei Menschen in diesem Raum sind. Fragend blicke ich Cheri und Hugo an, die sich aus der Diskussion vollkommen herausgehalten haben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie über diese Problematik der ach so drängenden Wahrheit aufgeklärt wären, aber sie scheinen auch nicht überrascht zu sein - also werden sie es wohl irgendwo irgendwann aufgeschnappt haben.

"Ist das für euch in Ordnung? Wenn Snow und ich zuerst die Wahrheit erfahren und euch dann gegebenenfalls einweihen?", hake ich nach.

"Immer", nickt Cheri und lächelt sanft. Man kann ihr ansehen, wie viel ihr Snow bedeutet - selbst, wenn die Wahrheit so schrecklich wäre, dass Snow beschließen würde, sie Cheri nicht zu verraten, hätte Cheri keine Einwände dagegen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie neugierig wäre - aber sie würde Snow nicht dazu drängen oder es ihr Übel nehmen, wenn Snow Cheri die Realität verschweigen sollte.

Welche Realität oder Wahrheit auch immer das sein sollte.

Hugo sieht da nicht ganz so losgelöst und locker aus. "Mir persönlich ist es eigentlich recht egal, ob ihr beiden nun eine tragische oder blutige Vorgeschichte habt. Jeder hat so seine Leichen im Keller", zuckt er mit gerunzelter Stirn die Achseln, "Aber ich mache mir Sorgen um Freya. Wenn Snow sie nicht einweihen sollte, würde sie das sicherlich sehr verletzen."

Verständlicherweise.

"Aber da sie ohnehin gerade nicht zugegen ist und somit nicht sofort eingeweiht werden könnte, selbst, wenn du bereits jetzt über die Informationen verfügen würdest, Lucien, und du beschließen würdest, sie mit uns zu teilen... denke ich, dass ich zustimmen kann. Aber wenn Snow Freya verletzen sollte", Hugos Blick verfinstert sich schlagartig, "Dann kann ich nicht versprechen, dass ich dann ruhig bleiben kann."

"Das sind alles nur Absicherungen für den schlimmsten Fall", wedelt Fire mit der Hand und vertreibt mit ihren Worten die Spannung, die sich im Raum aufgebaut hat. "Ganz so schrecklich ist das Ganze gar nicht", verdreht sie die Augen, "Es klingt nur unfassbar mysteriös und einschüchternd. Und", fügt sie hinzu, nachdem ich ihr einen verwirrten Blick zugeworfen habe, warum sie das Ganze dann andauernd so weltbewegend klingen lässt, "es macht diesen gesamten Krieg viel komplizierter für dich und Snow."





Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt