Siebenundsiebzig

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Snow

Ich werde von einem Duft geweckt, der mir vage vertraut vorkommt. Er erinnert mich an Zuhause, an Wärme und Geborgenheit, an Zuneigung und Fürsorge. Seufzend vergrabe ich meine Nase tiefer in den samtweichen Kissen und atme ihn noch intensiver ein. Es ist ein Duft, den ich schon halb vergessen habe, ein Duft, von dem ich gedacht habe ihn nie wieder riechen zu können. Ein Duft nach Schnee und Regen, nach Wald und Kiefern. Ein Duft, der mich an tränenreiche Nächte, tröstende Umarmungen und brennende Schmerzen erinnert.

Moment. Etwas stimmt da nicht.

Mit einem Ruck reiße ich die Augen auf und stemme mich hoch, auch wenn mein Körper am liebsten liegen geblieben wäre. Versunken in der schönen Illusion. Ich weiß nicht, was genau mich stört - aber ich weiß, dass etwas nicht stimmt.

Irritiert taste ich mit den Händen die Kissen und Laken neben mir ab. Sie sind noch lauwarm, als wäre bis eben noch jemand neben mir gelegen. Meine Haare fallen mir dabei wie ein Vorhang auf die Schultern und sperren alles andere um mich herum aus. Ich weiß nicht, warum ich erwartet habe von dem herben Geruch nach Rauch und Glut geweckt zu werden - oder warum es mich so sehr stört, dass dem nicht so ist.

Wieder eine neue Erkenntnis - wieder etwas, das mich unterbewusst stört, von dem ich aber nicht sofort sagen kann, was genau es ist.

Verwirrt blicke ich an mir hinunter und erkenne ein seidenes, strahlend weißes Nachtkleid. Auch dies kommt mir vage bekannt vor, und doch vollkommen fremd - wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, aus einem ganz anderen Leben.

Im nächsten Moment erstarre ich und hebe langsam die Hand zu meinen Schultern. Meine Haare. Ich habe noch felsenfest in Erinnerung, dass sie eigentlich schneeweiß sein müssten - weiß wie Schnee, weiß wie Sturm, weiß wie die Eismagie, die in meinen Adern zirkulierte. Jetzt fühle ich nichts mehr davon in meinen Adern - keine Magie, keine Macht, kein tödlicher Zauber. Ich fühle mich... normal. Und genau das zeigt mir, dass das Ganze völlig unnormal ist.

Denn jetzt sind meine Haare pechschwarz, immer noch glänzend und lang und schön, ja, aber schwarz.

Da dieses Mysterium nun gelöst ist, wende ich mich wieder den lauwarmen Laken zu. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, dass ich etwas vergessen habe, das ich niemals hätte vergessen dürfen. Gedankenverloren knete ich unruhig meine Finger und blicke entsetzt hinab, als mir klar wird, dass ich keinen Ring mehr trage. Nirgends. Ich weiß nicht mehr, warum es mich so erschüttert - aber ich weiß, dass ich eigentlich einen Ring haben sollte. Ich weiß, dass er meine letzte Rettung gewesen wäre. Ich weiß, dass ohne ihn alles verloren ist, denn wie soll er mich denn nun finden?

Und wer ist er und - warum sollte er mich noch einmal finden?

Ein Räuspern lässt mich zusammenzucken und erschrocken drehe ich den Kopf, um über meine Schulter hinweg hinter mich zu blicken. Dort steht eine Frau in einem fließenden, taubengrauen Kleid, das Gesicht gepudert und hübsch hergerichtet, die Haare kunstvoll hochgesteckt. Schneeweiße Haare. Polarweiße Haare. Und um sie herum...

Wieder zucke ich zusammen. Eine eiskalte Aura umgibt sie - tödlich, stürmisch und überdeutlich geht sie von ihr aus. Ich kann sie nicht sehen, ich kann sie nicht hören, nicht riechen - aber ich kann sie spüren, wie eine bröckelige Eiswand, die sie umgibt. Ein Kokon aus Frost, der sie unantastbar macht.

Sie sieht mich nicht an - sie schaut nicht einmal in meine Richtung -, aber ich weiß, dass sie sich vollauf auf mich fokussiert, auch wenn sie den Blick schweifen lässt und neugierig die Regale, Kommoden und Schränke mustert, die im Zimmer verteilt stehen. Vor dem Frisiertisch hält sie inne, ihre Augen verlieren sich in dem Spiegel, ihre Finger krallen sich in den filigranen Stuhl davor und sie zieht geräuschvoll die Luft ein. "Ich wusste nicht, dass du ihn behalten hast", murmelt sie flüsternd und würdigt mich nach wie vor keines Blickes. "Ich wusste nicht, dass du alles behalten würdest - jedes Lied, jedes Gedicht, jeden Brief, jedes Geschenk."

Ich kenne das Zimmer. Ich kenne jede noch so kleine Ecke, jeden noch so kleinen Gegenstand hier drin. Ich kenne alles davon, habe jahrelang darin gewohnt, darin gelebt, getobt, gesungen, getanzt, ich habe darin geträumt und geschrien, gewunken und gebetet.

Mein Herz sticht leicht und ich werde mir bewusst: sie hätte das alles eigentlich nie sehen sollen. Sie hätte das alles nie sehen können.

"Es war alles, das mir von dir geblieben ist", hauche ich und presse meine Faust an die Stelle zwischen meinen Brüsten, die pocht und sticht und tobt. Ich weiß nicht, warum ich die Worte spreche, ich erfasse nicht ihren Sinn, aber ich weiß unwillkürlich, dass sie der Wahrheit entsprechen. Ich weiß, dass mir die Frau viel bedeutet, und dass ich am liebsten bis in die Unendlichkeit mit ihr reden und Zeit verbringen würde - auch wenn ich weiß, dass sie nicht hier sein sollte. Niemals.

Die Frau lässt von dem Frisiertisch ab und sieht mich endlich an. Ihr Blick aus eisblauen, stechenden Augen geht mir durch Mark und Bein und lässt mich erzittern. In ihm liegt pure Macht, purer Sturm. Sie könnte mich töten, wenn sie wollte - und sie müsste dafür nicht einmal einen einzigen Finger rühren. Und doch weiß ich, dass sie das niemals tun würde.

"Du hast lange gebraucht, um dich zu erholen. Auch jetzt ist dein Körper noch nicht ganz auf der Höhe nach der... Operation", murmelt sie mehr zu sich selbst als zu mir. Mit schief gelegtem Kopf lässt sie ihren Blick von oben bis unten und wieder zurück über mich wandern, und unwillkürlich schaudere ich und ziehe die Decke höher, damit sie alles außer meinem Gesicht bedeckt. Ich will nicht, dass diese Frau mich so intensiv anstarrt.

Urplötzlich erstarrt sie, ihr Blick schießt zur Tür, ihre Lippen presst sie so fest auf einander, dass sie ganz weiß sind. "Schnell, leg dich wieder hin", herrscht sie mich streng an und stürmt lautlos mit wehenden Röcken auf mich zu.

Sie lässt mir keine Zeit für Widerworte, sie packt mich an den Schultern und presst mich zurück in die mittlerweile ganz kalten Laken. Ihr Blick verhakt sich in meinem und ich sehe so viel in ihren Augen: Liebe, Sorge, Stolz, Furcht, Panik - und jede Menge Entschlossenheit. "Ich weiß, du erinnerst dich an kaum etwas", flüstert sie.

"Ich weiß, du bist verwirrt und verängstigt und weißt nicht, was vor sich geht. Aber du musst mir vertrauen", beschwört sie mich eindringlich. Ihre Stimme klingt flehend. "Ich mag in all den Jahren nie für dich dagewesen sein, doch nun bin ich hier und werde nicht zulassen, dass er dir oder deinem Kind auch nur ein Haar krümmt, Snow. Du darfst ihn niemals ansehen, du darfst niemals mit ihm reden oder Fragen oder Forderungen stellen. Dein Vater ist ein Monstrum, er hat jegliche Grenzen der Menschlichkeit weit hinter sich gelassen, und als solches Wesen darfst du ihm auch kein Mitleid entgegenbringen. Du musst dich verstellen so gut es geht, und durchhalten bis dein Prinz kommt und dich rettet."

Ihre Augen blitzen auf. "Er ist der Richtige. Er wird kommen und dich retten, du darfst niemals daran zweifeln. Er. Wird. Kommen. Vertrau ihm und mir, und nur uns allein. Niemandem sonst - nur ihm und mir. Ich werde dich schützen, so gut ich kann, ich werde dich decken und behüten." Sie küsst mich hastig auf die Stirn. "Vergiss das nicht." Ihr Blick huscht zur Tür und wieder zu mir zurück. "Wenn du aufwachst, werde ich wohl nicht da sein. Stell dich schlafend, so lange du kannst, und rühr dich nicht bis du nicht spürst, dass dein Prinz gekommen ist."

Sie atmet tief durch. "Es tut mir leid. Wisse, dass es keine andere Möglichkeit gab. Es hätte dich und deinen Sohn getötet, wenn alles so geblieben wäre wie bisher, und ich werde nicht zulassen, dass mir dieses Monstrum von König und seine verdammte Magie auch noch meinen Enkel rauben." Sie speit das Wort aus, als wäre es etwas Widerliches, Unnatürliches, Grausames. Etwas Künstliches. Ihre Augen blicken traurig und zeitgleich liebevoll. "Und nun, schlaf, Liebes. Und lebe wohl, egal was geschehen mag."

Ihre letzten Anweisungen löst Widerstreben in mir aus, und am liebsten würde ich sie packen und festhalten und nie mehr loslassen, am liebsten würde ich sie noch so viel fragen und fordern, dass sie bleibt, doch ich spüre, dass sich etwas Bedrohliches nährt, etwas Tödliches, etwas Grausames - etwas Bestialisches, Unmenschliches, Angsteinflößendes. Etwas, von dem ich mich so weit es geht fernhalten will.

Ich muss nicht einmal allzu lange auf die selige Dunkelheit warten - Mutter hat mit ihrem letzten Kuss ihre Macht dazu genutzt, mich schlafen zu lassen.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt