Vierundvierzig

45 3 1
                                    

Linus

Stumm starren wir in den Sternenhimmel und hängen unseren jeweils eigenen Gedanken nach. Lia hält ihre Hand auf ihre Wunde gepresst, obwohl wir sie bereits vor einer halben Ewigkeit mit einem Fetzen meines Oberteils verbunden haben.

Ich habe keine Ahnung, wie lange es her ist, dass wir inmitten des angerichteten Chaos dieses Boot bestiegen haben. Es könnten genauso gut dreißig Minuten wie drei Stunden vergangen sein. Um uns herum herrscht nichts als unendliches Blau wohin das Auge reicht: Egal ob der leise plätschernde Ozean oder der dunkle Nachthimmel.

"Ich habe es immer noch nicht herausgefunden", murmele ich stirnrunzelnd in die Stille.

Lia wendet mir fragend das Gesicht zu.

"Den Grund, warum du damals unbedingt mit mir kommen wolltest", schiebe ich erklärend hinterher. "Ich verstehe ja, dass du dem eintönigen Leben einer Hure entkommen wolltest, aber ich war doch sicher nicht der Erste, der aus Sol fliehen wollte und den es in das Bordell verschlagen hat."

Ihr Blick ist nun nur noch irritierter. "Wieso interessiert dich das so sehr?"

Seufzend lehne ich mich vorsichtig zurück. "Du hast alles was es zum überleben braucht - du kannst töten, dich verteidigen, schauspielern, bist geschickt mit deinen Händen, außerordentlich gut in Form und äußerst gebildet", zähle ich an den Fingern ab.
"Du könntest jeden Mann - und vermutlich auch jede Frau - da draußen um den Finger wickeln, könntest dir einen großen Namen erarbeiten, zu Ruhm und zu Ehre gelangen, dir einen Titel erarbeiten - Himmel, wenn du wolltest, könntest du sicherlich sogar das Herz eines Prinzen oder Königs erobern!", schnaube ich.

"Also: wieso hast du das hier gewählt? Flucht, Mord aus Notwehr, Diebstahl, Rebellion - und ein Haufen Verletzungen", deute ich demonstrativ auf ihre Wunde. "Die letzte hat es kaum geschafft zu verheilen und du hast dir bereits die Nächste geholt."

Lia ist für einen Moment still und betrachtet forschend mein Gesicht, ehe sie leise erklärt: "Meine Talente und alles Lob, das ich je erhalten habe, haben dazu geführt, dass ich nur noch härter trainiert, nur noch brutaler ausgebildet wurde. Ruhm und Ehre", wiederholt sie spöttisch und ihre Lippen kräuseln sich vor Abscheu, "haben mir nichts als Leid und Elend beschert. Das hier - so unverständlich das auch erscheinen mag - ist so viel mehr Wert. Das hier ist Freiheit. Und wenn ich mir noch so viele Verletzungen zuziehe - solange ich die freie Entscheidungsgewalt über mein Handeln habe, nehme ich alles in Kauf." Ihre Augen funkeln atemberaubend in der Nacht.

Ich halte kurzzeitig die Luft an und stoße sie dann langsam wieder aus. "Dann sollten unsere Wege sich trennen", murmele ich und reibe mir mit den Händen über das Gesicht.

Sofort richtet sie sich kerzengerade auf und das Boot schwankt besorgniserregend bei der plötzlichen Bewegung. "Was?", fragt sie nur mit erstickter Stimme.

Wieder atme ich tief durch, balle die Hände zu Fäusten und presse sie gegen meine Augen. "Als ich achtzehn war stolperte... sie in mein Nachtlager." Es ist unnötig zu erklären, wen ich damit meine. "Sie war gerade... seine Verlobte geworden, lebte im solischen Schloss, und ist mir zufällig über den Weg gelaufen. Wir haben uns nachts getroffen, uns ein karges Abendessen geteilt und einander Geschichten aus unserem Leben erzählt. Dann sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen, und..."

Ich lasse mir zwei ganze Atemzüge Zeit, um das Ziehen in meiner Brust zu verdrängen. Als ich wieder spreche ist meine Stimme leise geworden. "Ich habe sie geliebt - zu sehr. Mein Drang sie zu beschützen und für ihre Sicherheit zu sorgen hat mich zu sehr eingenommen, ich habe über ihren Kopf hinweg entschieden, habe sie klein und unwissend gehalten und hätte sie im nächstbesten Turm eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen... und deswegen hat sie den Feuerprinzen mir vorgezogen."

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt