Neununddreißig

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Snow

Ich stütze meinen Körper zu einem Großtel an die Wand, während ich langsam und vorsichtig die Treppe hinuntersteige. Ich fühle mich immer noch schwach und wackelig auf den Beinen. Bereits seit einer Weile höre ich jedoch gespannt einer Debatte zu - einem Gespräch, das mir regelrecht den Weg weist, und mir verrät, wo ich hin muss.

Ich höre ein scharfes Zischen. "Muss ich Euch erst daran erinnern, in wessen Gebiet diese Festung liegt? Widersetzt Euch meinem Befehl, und in einer Stunde wird meine eigene Armee hier einmarschieren und ein Blutbad anrichten." Vermutlich ein Herzog, denke ich. Ein lunischer Adeliger. Und seinen Worten kann ich ganz genau entnehmen, um welchen Herzog es sich handelt. Grimmig lächelnd steige ich die letzten Treppenstufen hinab. Bisher ist mir keine Menschenseele begegnet.

Ich weiß genau, dass Lucien sich bei diesen Worten versteift. Ich weiß genau, dass er kurz davor steht, die verfluchte Provokation auszusprechen, die uns alle in den Untergang reißen wird. Wir haben bereits einen Krieg auszufechten - wir können uns keine weiteren Scharmützel leisten. Auch wenn ich dem Adeligen genauso gern die Zähne einschlagen würde.

Tief atme ich durch, schließe für einen Moment die Augen, lasse meinen Körper zu Atem kommen, während ich mich innerlich wappne und meine Gedanken sammle. Ich bin wirklich ein Wrack geworden. Probeweise räuspere ich mich und schlucke meine Angst hinunter. Ich habe das Gefühl jeden Moment daran zu ersticken.

Bevor ich doch noch einen Rückzieher mache, reiße ich die Augen wieder auf und zwinge mich den Türrahmen loszulassen, an den ich mich geklammert habe. "Eine Schlacht wird nicht notwendig sein", informiere ich den Herzog im selben Moment, in dem ich erhobenen Hauptes den Saal betrete.

Mir ist schwindelig und alles dreht sich, da ich aufrecht und selbstbewusst hineinstolzieren musste. Ich habe nach außen hin schließlich immer noch meine Rolle als Anführerin eines Widerstands zu spielen. Die Außenwelt weiß nichts davon, dass ich wer-weiß-wie-lange außer Gefecht gewesen bin.

Nach meinem großen Auftritt kann ich mich nun allerdings wieder an die Wand lehnen - natürlich mit einer großen Spur Lässigkeit und Arroganz.

Sofort heften sich sieben überraschte Augenpaare auf mich, aber meine Vertrauten sind klug genug, nichts zu sagen. Neben dem Herzog befindet sich außerdem ein Leibwächter, der mir bis dahin gar nicht aufgefallen ist. Mir wird bei der plötzlichen Aufmerksamkeit trotzdem eiskalt.

"Mich hat die Grippewelle getroffen, die um diese Jahreszeit häufig auftritt, daher konnte ich Euch nicht früher persönlich empfangen", erkläre ich dem Herzog entschuldigend und verschränke meine Arme vor der Brust, um das Zittern meiner Hände zu verstecken - und um ein wenig mehr Wärme bei mir zu behalten. Ich kann nur beten, dass meine Vertrauten ihm noch keine alternative Erklärung geboten haben und ihm die Uneinigkeit unserer Worte auffällt. "Aber so wie die Dinge liegen bin ich mir sicher, dass Ihr mir dieses kleine Vergehen verzeihen werdet."

Ich straffe die Schultern und hebe das Kinn ein wenig höher. Mir schlägt das Herz bis zum Hals und ich zwinge mich, einzig und allein den Adeligen anzustarren. Ich darf nicht eine Sekunde aus meiner Rolle fallen. "Überlasst uns die Festung mitsamt aller Ausstattung, und ich schwöre, ich werde tun was ich kann, um die Sicherheit Eurer Familie zu gewährleisten, sollte es zu Gefechten kommen, die ihr Leben gefährden könnten. Verbündet Euch mit uns, steht uns in diesem Krieg finanziell bei - und wenn Ihr Wort haltet, gewähre ich Euch nach unserem Sieg einen höheren Titel."

Der Herzog räuspert sich. Offenbar hat er mit meiner Anwesenheit nicht mehr gerechnet, nachdem er auf meine Vertrauten getroffen ist. "Natürlich. Allerdings sind dies schwierige Zeiten - ein Bündnis mit Euch einzugehen würde in eine prekäre Lage bringen, Prinzessin. Was denkt Ihr, würde Euer mit mir anstellen, wenn Ihr den krieg verlieren würdet? Was gedenkt Ihr deswegen zu tun?", äußert er seine Bedenken und bemüht sich sichtlich um einen diplomatischen Tonfall, obwohl alles an ihm richtiggehend vor Hohn und Spott trieft. Ganz offensichtlich nimmt er mich nicht ganz ernst.

Er hat Ice immer sehr geschätzt - obwohl diese Emotionen lediglich auf kalter Berechnung und einem diabolischen Blutdurst aufbauen, und diese Liebenswürdigkeit immer nur einseitig gewesen ist. Ich denke, das ist der Grund, warum er sich überhaupt dazu herablässt, mit mir zu reden. Abgesehen davon, dass er seinen Hals natürlich aus der Schlinge ziehen will, egal wie dieser Krieg ausgeht.

Wäre es anders, würde er mir das Wort abschneiden, meine Meinung für unwichtig erklären und mir eine Todesdrohung an den Kopf werfen.

Vielleicht ist er aber auch nur klug genug, seine maßlose Arroganz im Zaum zu halten, weil er weiß, dass ihn ein falsches Wort hier und jetzt den Kopf kosten könnte. Nach allem wird sich immerhin herumgesprochen haben, dass ich über eine respekteinflößende Eismacht gebiete - und dass ich äußert brutal vorgehen kann, wenn ich will. Zumal der Herzog sich hier auf meinem Terrain befindet, umzingelt von meinem eigenen kleinen Heer. Dagegen kann sein Leibwächter dort einpacken.

Verständnisvoll senke ich den Kopf ein wenig. "Ich verstehe Eure Sorge, Herzog. Es ist Eure Entscheidung, ob Ihr mein Angebot annehmt oder nicht. Doch vergesst nicht, was ich mit Euch anstellen werde, wenn ich siege, und Euch auf der anderen Seite vorfinden sollte", schmunzle ich gelassen und erschaffe aus dem Nichts einen kleinen, spitzen Eiszapfen, mit dem ich mir seelenruhig die Nägel säubere.

Seit ich aufgewacht bin pulsieren meine Adern vor Macht und flehen mich regelrecht an, mein Eis zu benutzen. Daher habe ich, bevor ich die Treppe hinunter gestiegen bin, noch ein wenig mit dem Schneegestöber dort draußen gespielt. Trotz meiner Ohnmacht habe ich die Schutzmaßnahmen der Festung aufrecht erhalten können, in der Hinsicht habe ich also sehr wohl die gesamte Zeit über bereits meine Macht benutzt - aber seit ich Mutters Seele in meinem Inneren begegnet bin, haben sich mir vollkommen neue Eisressourcen ergeben.

Der Herzog schluckt schwer. Ich merke, dass er kurz davor ist, einen Wutanfall zu bekommen und eine Tirade zu starten, also unterbreche ich ihn, bevor er überhaupt erst beginnen kann. "Ihr seid beunruhigend blass geworden, Herzog. Geht es Euch nicht gut?", spotte ich amüsiert. "In diesem Zustand solltet Ihr auf keinen Fall alleine durch das Schneegestöber ziehen - die Route ist zu dieser Jahreszeit besonders gefährlich, bei all den plötzlichen Stürmen, die auftreten können. Ich lasse sofort ein Zimmer für Euch herrichten, damit Ihr Euch ausruhen könnt. Überdenk mein Angebot doch in dieser Zeit ruhig und seid so freundlich, heute Abend mit mir und meinen engsten Beratern zu speisen", lächle ich wölfisch und werfe Cheri einen bittenden blick zu.

Es ist das erste Mal, dass ich seit meinem Eintreten jemand anderen ansehe, als den Herzog - obwohl meine Vertrauten mich keine einzige Sekunde aus den Augen gelassen haben. Wie erwartet werden meine Knie sofort weich und ich drohe einzuknicken. Angespannt zwinge ich mich Haltung zu bewahren, bis ich mit meinen Vertrauten alleine bin.

Cheri starrt mich mit großen Augen vollkommen perplex an, ist aber so nett, meiner Bitte ohne zu zögern Folge zu leisten. Sie geleitet den fassungslosen Herzog mitsamt seinem argwöhnischen Leibwächter aus dem Saal und lässt mich mit Lucien, Fire, Ann und Hugo alleine, die mich allesamt anstarren, als sei ich ein Phantom.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt