Neunundsechzig

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Linus

[Als Rothaar einen besonders heftigen Treffer landet und Lia sichtlich zusammenzuckt, springt Iane freudestrahlend auf.]

Das ist zu viel für mich.

Ohne weiter darüber nachzudenken werfe ich meinen schwerfälligen Körper nach vorne, und sacke wie ein Stein zu Boden - auf Iane. Sie hat damit offenbar überhaupt nicht gerechnet - offenbar hat sie tatsächlich alles um sich vergessen - und geht mit mir zu Boden.

Noch habe ich nicht meine volle Bewegungsfreiheit zurück, aber mein Körpergewicht ist ein Vorteil, den ich schamlos ausnutze. Iane versucht kreischend, mich von sich runter zu schieben, aber ich gebe nicht nach. Es ist nicht nur ein Kampf gegen sie, sondern auch ein Kampf gegen mich selbst - denn mein Körper streikt nach wie vor -, aber ich bin entschlossen nicht nachzugeben.

Niemals.

Sie hat Lia wehgetan, hat sie verletzt, sie bloßgestellt, sie verspottet, sie beschämt, sie gefoltert, sie erpresst und sie benutzt...

Meine Hände finden ihren Hals und ich zwinge meine Finger, zuzudrücken. Um mich herum bricht lauter Tumult los, aber ich habe keinen Blick mehr für mein Umfeld übrig. Ich kenne nur noch ein Ziel: Iane töten.

Dieses verräterische Miststück hinrichten, ihr Leben beenden, die Welt durch ihren Tod zu einem bessern Ort machen, sie auslöschen, sie vernichten...

Ihre Augen sind weit aufgerissen und sie starrt kreischend und würgend zu mir hoch, aber ich blecke die Zähne und mache weiter.

Etwas kracht von vorne in mich hinein und schleudert mich ein kleines Stück weg, doch meine Hände ertasten das Messer, das Iane zuvor an meine Kehle gehalten hat, und ich hechte sofort wieder vor, um sie umzubringen.

Hände, Krallen und Klauen zerren an mir, reißen an mir, aber ich gebe nicht nach.

Stirb, stirb, stirb. Es ist ein endloses Mantra in meinem Inneren, es ist das einzige woran ich denken kann, und es ist das einzige, das mich gerade interessiert. Stirb, stirb, stirb.

All die angestaute Wut, all der Hass, all der Schmerz und Zorn und all die Abscheu entladen sich in mir, explodieren wie ein heller Stern in meinem Inneren. All die Stunden in der Zelle, all die Momente in der Folterkammer, all die Augenblicke in denen sie mich betatscht und Lia wehgetan hat...

Iane hat nach Luft ringend in der Zwischenzeit versucht wegzukriechen, aber sie kommt nicht weit. Ich lasse sie nicht entkommen. Nur über meine Leiche.

Ich werfe meinen Körper nach vorne, wieder auf sie, und hole mit dem Messer aus. Mein Arm zittert und streikt, aber ich bin wie besessen von meinem einen, einzigen Ziel: Iane töten.

Mein erster Hieb geht in ihre Brust und ein ohrenbetäubender Schrei entlädt sich aus ihrer Kehle. Mein zweiter dringt ein kleines Stück über dem ersten ein und wieder reiße ich das Messer hinaus. Blut spritzt auf mich, klebt an meinen Händen, aber es ist mir egal. Ihr Geschrei wird zu einem Röcheln, zu einem Husten und Würgen, und ihr Widerstand bröckelt immer weiter.

Wieder und wieder und wieder hiebe ich hinab, in ihre Brust, in ihre Kehle, in ihr Gesicht, in ihre Augen. Wieder und wieder und wieder. Auch als das Leben ihren Körper längst verlassen hat kann ich nicht aufhören. Es ist, als hätte ich alles andere plötzlich vergessen: Wie man aufhört, wie man stoppt, wie man atmet, wie man lebt. Mein Geist ist auf diese eine Bewegung beschränkt. Ich nehme gar nichts mehr wahr - nur noch ihren Körper vor mir und das Messer in meiner Hand, mit dem ich sie abstechen muss.

Kühle Hände ertasten meine, wollen danach greifen, doch ich stoße sie weg.

Ich muss Iane töten. Ich muss sie töten.

"Sie ist bereits tot!", schreit mir jemand direkt ins Ohr und dieser eine Satz dringt zu mir durch. Die Stimme dringt zu mir durch.

Meine Bewegungen werden langsamer, schwerfälliger. Mein Arm brennt wie Feuer, mein Körper fühlt sich steif an. Alle Kraft weicht aus mir und ich lasse das Messer fallen, den Kopf hängen.

Lia umfasst mein Gesicht sofort mit ihren Händen und blickt mir mit rot geränderten Augen und zitternden Lippen in die Augen. Ich fühle mich wie benebelt, in meinem Kopf herrscht eine unfassbare Leere.

Dann senkt sie den Kopf und küsst mich. Einmal. Zweimal. Auch das dringt zu mir durch.

Ich lege meine Hand auf ihre, und als ich einatme holt mich die Erkenntnis ein: Ich habe Iane getötet. Mein Gewissen trifft mich wie ein Blitz und liegt mir bleischwer im Magen.

Sicher, sie hat den Tod verdient, und ich habe mehrfach darüber nachgedacht, sie umzubringen, aber... Es dann tatsächlich durchgezogen zu haben ist etwas ganz anderes.

Zitternd blicke ich zu Ianes Leiche.

Sie ist nicht mehr zu erkennen. Ihr Gesicht... ist nicht mehr zu erkennen. Es ist eine einzige große Wunde, so oft habe ich... auf sie...

Mein ganzer Körper bebt vor Schock und Lia dreht sanft mein Gesicht wieder zu sich. Sie küsst mich noch einmal und umarmt mich fest.

"Sie hat... Dir wehgetan... Ich... Ich habe...", stammle ich und bin unfähig mich zu bewegen.

Ich habe Snows Schwester getötet. Ja, sie war ein Miststück, ja, sie stand auf der falschen Seite, aber... Ich habe Snows Schwester getötet.

"Ich weiß", murmelt Lia schluchzend. "Es ist vorbei. Rose und Tray leben und... kümmern sich gerade um die Uman. Sie ziehen sie auf unsere Seite - für Snow und das... rothaarige Mädchen. Wir sind... Wir können jetzt von hier weg", flüstert sie mit belegter Stimme. "Wir können weg und in Frieden leben. Wir sind frei."

In meinen Augen sammeln sich die Tränen, und ich starre fassungslos in die Leere.

Frei.

Wir sind frei.

Zitternd klammern Lia und ich uns aneinander und starren in die Leere, bis wir uns dieser neuen Welt stellen können, die plötzlich unendlich groß und weit erscheint.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt