Neunundachtzig

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Snow

Angespannt spähen Lucien und ich in den Thronsaal hinein, während die Türen langsam aufschwingen. Wir haben beide unsere Waffen gezogen und halten uns mit den anderen Händen eng aneinander fest. Wir stehen das gemeinsam durch, komme was wolle.

Der Saal sieht noch genauso verhasst aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, mit den kahlen, kalten Wänden, dem kobaltblauen Teppich, der zu dem hoch aufgerichteten Thron führt und keinerlei Schmuck, wenn man von dem großen Banner hinter dem Thron absieht, das die Flagge Lunas - einen silbernen, heulenden Wolfskopf mit einem Vollmond im Hintergrund - zeigt. Der zweite Thron, Mutters Thron, ist schon lange fortgeschafft worden, lange bevor die zweite Ehefrau des Königs verstorben ist.

Wachsam behalte ich all die Türen im Auge, die in die Wände des Thronsaals eingelassen sind und zu unterschiedlichsten Räumen, Fluren, Wegen und Kammern führen.

Alles ist leer, bis auf eine einzige Person am anderen Ende - den König. Das Kinn in die Hand gestützt, den anderen Arm herabbaumelnd, den Blick arrogant und leer in die Ferne gerichtet, sieht er richtiggehend gelangweilt aus. Genau wie ich ihn in all meinen Albträumen immer gesehen habe, steht sein weißsilbernes Haar wild in alle Richtungen ab, die Augen kalt und eisgrau, die Haut blass und bleich, ein gespenstisches Lächeln auf den Lippen. Genauso hat er immer ausgehen - egal, ob er jemanden begnadigt, verhöhnt, verspottet, ermordet oder gefoltert hat.

Lucien und ich treten ein paar Schritte näher. Nichts geschieht, doch wir lassen uns nicht täuschen - wir bleiben auf der Hut. Leise schließen sich die Tore hinter uns automatisch wieder.

Den König in seiner menschlichen Gestalt vorzufinden, irritiert mich. Das ist der Mann, den ich einst Vater genannt und insgeheim dennoch verflucht habe.

Doch ich spüre seine Aura nicht, und das irritiert mich noch mehr. In den letzten Tagen und Wochen habe ich seine Stimme gehört - klappernd und kreischend. Nicht menschlich. Ich habe seine Aura vereits auf weite Distanz gespürt, zäh und ölig, dunkel und widerlich. Ich habe ihn mir wie ein mageres Skelett, ein Monstrum, ein Ungeheuer vorgestellt. Das sieht jetzt allerdings ganz anders aus.

"Ah, meine geliebte Tochter ist endlich heimgekehrt", erschallt seine volltönende, monotone Stimme. Sie hallt im gesamten Saal wieder. Für all die Grausamkeiten, die er begangen hat, klingt sie viel zu menschlich. Zu natürlich.

Wie in Zeitlupe senkt er den Blick zu mir. Seine Augen blicken mich eiskalt und vertraut von oben herab an - ich bekomme unwillkürlich eine Gänsehaut. "Hast du lange genug durch die Welten gewandert? Hast du genug gesehen, um zu erkennen, dass es bei mir am Besten ist?"

Ich kann nicht fassen, was er da sagt. Verspottet er mich? Verhöhnt er mich? Was meint er mit Welten? Er klingt so wirr. Meint er es etwa doch ernst? "Ich bin gekommen, um dich zu töten", antworte ich, doch meine Stimme klingt nicht einmal halb so wütend, zornig und entschlossen wie ich es gern hätte. Stattdessen zittert sie, ich stolpere über die Worte und klinge zu piepsig.

Es hat nie so etwas wie eine innige Beziehung zu meinem Vater gegeben. Mein ganzes Leben lang musste ich mich verstecken - eine Tochter im Königsgeschlecht gilt in Luna als schlechtes Omen. Als Zeichen für Schwäche, Verfall und Korruption. Dabei hat mein Vater selbst all diese Dinge über das Land gebracht, indem er sich in seinem blinden Wahn an die Macht geklammert hat wie ein Seemann an ein sinkendes Schiff. Dabei hat er sämtliche Grenzen überschritten.

Früher habe ich vor ihm gezittert. Ich habe Angst vor ihm gehabt, vor den Stunden der Folter mit all den Flammen, und ich habe sowohl ihn und seine Launen als auch das Feuer fürchten gelernt. Ich habe sie alle ertragen und überlebt, obwohl ich mir doch nie mehr gewünscht habe, als normal zu sein und von meinen Eltern geliebt zu werden.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt