Sechsundzwanzig

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Linus

„Wie weit denn noch?",mault Lia mit einem Schmollmund und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein kühler Wind weht vorbei und sie schaudert unter meinem Mantel.

„Nicht mehr weit. Nur noch ein paar Tage", antworte ich kläglich lächelnd.

Sie sieht mich entgeistert an. „Noch ein paar Tage?! Wir sind seit Wochen unterwegs!", wirft sie die Arme in die Luft. „Ich wusste doch, wir hätten die Leute in dem kleinen Örtchen fragen sollen, als wir daran vorbeigekommen sind. Sie hätten sicherlich gewusst, wo es zur Hauptstadt geht, aber nein, du musstest dich ja unbedingt an deinem Stolz festklammern!" Sie verdreht die Augen und wendet sich ab, woraufhin sie beleidigt das Meer, das sich vor uns erstreckt, betrachtet.

Der Schnee liegt hier nur hauchdünn über dem Sand – es scheint, dass die Temperaturen steigen, je weiter man sich vom solischen Schloss entfernt. Was auch immer Snow an dem Tag ihrer Flucht dort angestellt hat, es hat den Palast und die gesamte Hauptstadt in Schnee gehüllt – etwas, das in Sol noch nie gesehen worden ist. Das Land ist für seine Wärme bekannt, und dass es eines Tages hier schneien würde, ist für die Bewohner genauso wahrscheinlich gewesen, wie dass Schweine eines Tages fliegen könnten.

„Ich bin mir sicher, dass ich in der Lage bin, die Hauptstadt auch ohne fremde Hilfe zu erreichen", entgegnete ich, immer noch entschuldigend grinsend. „Ach, komm schon", schiebe ich nach einem kurzen Moment Stille hinterher und ziehe sie an ihrer Hüfte wieder zu mir. Sie wendet sich stur ab und weigert sich, mich anzusehen, aber ich lasse mich davon nicht entmutigen. Ich lege ihr eine Hand an die Wange und drehe ihr Gesicht sanft zu mir. „Wir schaffen das schon. Es dauert sicher nicht mehr lange", versuche ich, sie aufzumuntern.

Sie atmet betont laut aus, hebt den Blick zu meinen Augen und schlingt ihre Arme um meinen Hals.„Na gut", gibt sie widerstrebend nach und drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Einen Tag. Dann fragen wir jemanden nach dem Weg." Sie lächelt mich strahlend an.

Ein Räuspern ertönt seitlich von uns und erschrocken fahren wir auseinander, die Augen weit aufgerissen. Lia hat sich eine Hand auf die Brust gelegt, ich schiebe verlegen meine Hände in die Hosentaschen.

Vor uns steht ein bärtiger Mann, seine Haare grau, sein gesamtes Erscheinungsbild schmutzig und ungepflegt. Selbst über die Meter hinweg, die uns trennen, kann ich seinen Gestank nach Fisch riechen. Er grinst, und entblößt somit einige Zahnlücken. Seine Zähne sind orange und es ist offensichtlich, dass er nichts von Körperpflege hält.

„Vielleicht kann ich Euch helfen, M'lady", wendet er sich mit rauer Stimme an Lia. Mich sieht er nicht einmal an. Sein Blick ist fest auf Lias Dekollte gerichtet – denn sie hat die obersten Knöpfe des Mantels offengelassen und ihre ohnehin schon freizügige Kleidung so hergerichtet, dass ihre Brüste beinahe schon aus dem Mantel quellen.

Genau nach Plan.

Innerlich grinse ich breit, während ich ihn äußerlich nur gutmütig anlächle wie einverdammter, naiver Idiot.

„Wie meinen Sie das?", hakt Lia nach und stemmt eine Hand in die Hüfte, während sie ihr Gewicht auf ein Bein verlagert, um ihre Kurven zu betonen, die man trotz des Mantels sehr wohl erkennen kann.

Er verfolgt jede einzelneihrer Bewegungen wie ein ausgehungerter Wolf, dem man ein Stück Fleisch vor die Schnauze hält.

Ich komme nicht drumherum, mich langsam unwohl zu fühlen bei dem intensiven Blick, mit dem er Lia bedenkt. Sicher, das war der Plan – aber muss sie dabei auch noch so sorglos aussehen, als würde ihr sein Starren auf ihre Brüste gar nicht auffallen? Oder – als würde es ihr gar gefallen?

Ich schiebe diese Gedanken schnell beiseite. Lia gefällt diese Scharade sicher genauso wenig wie mir. Wir haben uns beide im Voraus für das, was wir zu tun hätten, entschuldigt.

Der Mann deutet mit einem Daumen hinter sich, das schmierige Grinsen immer noch auf den spröden Lippen. „Ich und meine Kumpane wohnen in diesem alten Hotel dort drüben. Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne mitkommen. Könnt euch dort ausruhen. Essen. Schlafen." Er zuckt mit den Achseln. „Es ist eine Weile her, dass wir Gäste hatten, also geht alles aufs Haus. Müsst keine einzige Münze springen lassen."

Selbst die Alarmglocken eines Blinden würden spätestens jetzt schrillen und ich unterdrücke das Verlangen, die Augen zu verdrehen. Stattdessen nicke ich. „Das klingt gut." Mein Blick wandert zu Lia und mein Lächeln wird breiter. „Nicht wahr, Herzchen? Du beklagst dich doch seit Tagen, dass dein Körper vom vielen Kampieren wehtut."

Sie grinst strahlend. „Das klingt wirklich hervorragend!", ruft sie aus und klatscht vor Freude in die Hände. „Nun, werter Herr, wären Sie so freundlich, uns den Weg zu zeigen?" Sie schlendert zu ihm herüber und hakt sich bei ihm unter, wobei sein Arm an ihre Brüste gedrückt wird. „Und dabei könnten Sie mir sicherlich allerhand über das alte Hotel erzählen, oder?"

Er errötet sichtlich und sein Grinsen wird so breit, dass ich so langsam das Gefühl habe, sein Gesicht würde einreißen.

Und ich habe so langsam das Gefühl, dass ich nicht gerade wenig Lust habe, noch viel mehr an seinem Gesicht einzureißen.

Trotzdem lächle ich weiterhin scheinheilig vor mich hin, als würde ich nichts davon bemerken, und folge den beiden in einem groben Ein-Meter-Abstand, während sie munter miteinander plaudern.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt