Siebzehn

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Linus

Umhüllt von tiefster Finsternis will ich instinktiv losschreien, aber eine Hand legt sich schwer auf meinen Mund und verhindert, dass es dazu kommt. Eine weibliche Hand.

Meine Begleiterin zieht mich dicht an sich heran - was ich nur daran erkenne, dass ich bei dem unerwarteten Ruck aus Versehen ihre weichen Brüste streife. Verflucht, es ist so dunkel, dass ich nicht einmal ihr Gesicht erkennen kann, obwohl wir uns so nah wie noch nie sein müssten!

"Kein Mucks. Nicht ein Wort. Ich bestimme jetzt die Regeln, und du befolgst sie", murmelt sie unfassbar leise in mein Ohr und ihr warmer Atem streicht neckend über meinen Hals. Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf: Wir beide in einem Bett, sie über mir, ihr warmer Atem an meinem Hals, meine Hände an ihren Hüften, während sie... Ganz falsche Gedanken in diesem Moment, Linus!, ermahne ich mich selbst und verpasse mir eine mentale Ohrfeige. Ich sollte mich wirklich konzentrieren!

"Mach die Augen zu", befiehlt sie und ich gehorche schnell. Es ist eindeutig, dass sie weiß, was sie tut - oder zumindest sehr überzeugend so wirkt. "Hör zu, der Plan lautet folgendermaßen: Du lässt die Augen zu, egal was passiert. Das ist wichtig sobald wir hier raus sind, denn die Dunkelheit wird mich für eine Weile blenden, bevor meine Augen sich an die Lichtunterschiede gewöhnen können. In der Zeit musst du meine Augen sein."

Sie lässt ihre Hand von meinem Mund sinken und greift stattdessen nach meinen Armen, die sie sich um den Hals schlingt. "Halt dich fest. Das wird holprig", fügt sie hinzu, einen Abklatsch ihres typischen, neckenden Tonfalls in der Stimme.

Noch bevor ich die Bedeutung ihrer Worte realisieren kann, hat sie sich bereits umgedreht - das merke ich am Lufthauch - und mich kurzerhand auf ihren Rücken gehoben. Instinktiv schlinge ich meine nun in der Luft hängenden Beine um ihre Taille und verstärke meinen Griff um ihren Hals, um nicht abzurutschen - ich achte dabei jedoch darauf, ihr weder weh zu tun, noch ihr die Luft abzudrücken.

Gar nicht so weit weg meine ich bereits Flügelflattern und schrilles Geschrei zu hören, und meine Nackenhaare stellen sich auf, während kalte Schauder meinen Körper durchrieseln. Was zur Hölle tun wir hier überhaupt? Und wer dachte, dies sei eine gute--

Eine enge Schlinge legt sich um unsere aneinandergepressten Körper und das leise Schaben von Stoff ist zu hören. Sie hat uns aneinander gebunden.

Ich schaffe es nicht einmal zu blinzeln - oder würde es nicht einmal schaffen, wenn ich meine Augen offen hätte -, da geht schon ein Ruck durch meinen Körper und der Wind braust in meinen Ohren. Dadurch, dass ich die Augen fest zusammengekniffen habe, ist mein Hörvermögen bei Weitem empfindlicher. So kommt es auch, dass ich sofort das leise Sausen höre, als würde etwas haarscharf an uns vorbeifliegen.

Zu dem pfeifenden Wind in meinen Ohren und dem holprigen Rucken, das durch mich hindurch fällt, gesellt sich das beängstigende Gefühl dazu, dass etwas über uns schwebt.

Ich will gerade meine Begleiterin darauf aufmerksam machen, als ein Schrei ertönt und ich spüre, wie das Wesen hinabstürzt - zu spät.

Genau im richtigen Moment springt meine Partnerin leichtfüßig zur Seite - mein Körper kippt kurzzeitig zur anderen, ehe ich meine Lage wieder stabilisieren kann - und beginnt, im Zickzack vorwärts zu stürmen, wobei sie ihre Hände unter meine Kniekehlen schiebt und mich mit schmerzhaftem Druck festhält. Ich spüre, wie sie sich nach vorne lehnt, und komme nicht drum herum, für einen Moment ihre Ausdauer zu bewundern - nicht ein lauter Atemstoß entweicht ihrem Mund, als würde sie gerade einen gemütlichen Spaziergang machen, und nicht eine Hetzjagd gegen hungrige Wesen führen.

Mittlerweile schmerzen meine Arme und Beine von meiner verkrampften Haltung und ich bin mir recht sicher, dass meine Umklammerung sich für sie wie ein Schraubstock anfühlen muss, aber ich gebiete mir selbst, durchzuhalten - immerhin tut sie es auch und rettet unser beider Leben!

Es hätte mich nicht verwundert, wenn sie mich einfach stehen lassen hätte und allein geflohen wäre - auf diese Weise hätte sie mich nicht als Last zu tragen und zeitgleich eine hervorragende Ablenkung für die Uman gehabt. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum genau sie mich braucht - oder warum sie mich sonst mit sich herumschleppt, obwohl ich nichts als eine Bürde zu sein scheine.

Meine Aufmerksamkeit kehrt schlagartig zur Realität zurück, als sie leise zischt und mich in den Schenkel zwickt. Ist das ein Zeichen? Ist es so wei--

Die Welt um mich herum wird heller und meine Fragen erübrigen sich. Sofort reiße ich die Augen auf und blinzle hektisch. Wir sind drauß--

"Wo lang?", ruft sie schrill.

"Spring!", schreie ich aus voller Kehle und habe das Gefühl, mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich beiße angespannt die Zähne aufeinander und klammere mich wie ein kleines Kind um ihren Körper.

Sie folgt meiner Anweisung sofort und wir entgehen nur knapp einem weit aufgerissenen Maul mit vielen, giftgrünen, spitzen Zähnen, das von der Seite auf ihre Beine gezielt hat. Das hautfarbene, vernarbte Wesen kreischt auf, wendet und fliegt uns hinterher.

Meine Partnerin stößt mehrere unflätige Flüche hintereinander aus, ehe sie sich wieder an mich wendet. "Achte auf seinen Körper!", befiehlt sie mir. "Erkennst du irgendwo schwarze Ketten?"

Hektisch suche ich das Wesen ab und will gerade verneinen, als ich einen winzigen Ring im Ohr des Wesens flattern sehe. "Ja!"

"Verdammt sei der König!", ruft sie aus und knirscht mit den Zähnen.

Das Wesen kommt uns immer näher und holt schnell auf, obwohl wir uns immer weiter vom Za'dou entfernen.

"Wieviele Uman erkennst du?", wendet meine Partnerin sich wieder an mich.

Kurz blicke ich um uns herum. "Nur das eine!", antworte ich über das Brausen des Windes hinweg.

Die Sonne geht am Horizont bereits auf und malt goldene Schlieren in den dunklen Himmel. Es handelt sich nur noch um Sekunden, bis das Wesen uns eingeholt hat.

"Immerhin eine gute Nachricht", knurrt meine Begleiterin. "Hör zu, der Tag bricht jeden Moment an - das heißt, die Soldaten werden uns gleich entdecken. Du musst das Seil lösen und abspringen, damit zumindest du-"

"Ich lasse dich nicht alleine!"

"Jetzt ist nicht die Zeit um-"

"Ich meine es ernst! Ich lasse dich nicht alleine!", beharre ich weiterhin.

"Dann verreck doch mit mir, du sturer Idiot!", kreischt sie, wirbelt in die entgegengesetzte Richtung herum, und schiebt ihre Hand, bewaffnet mit einem Dolch, mit Wucht direkt in das aufgerissene Maul des Uman hinein.

Im selben Moment, in dem sein Blut spritzt, schließen sich seine Kiefer um ihren Arm und sie schreit schmerzerfüllt auf, als ihre Haut von den giftigen Zähnen der Kreatur durchbohrt wird.

Anstatt jedoch ihren Arm sofort zurückzuziehen, nutzt sie diese Hand um das Wesen näher an sich heranzuziehen und rammt mit der anderen Hand ein weiteres Messer an die Stelle, an der sich das Herz eines Menschen befinden würde.

Der Uman sackt kraftlos in sich zusammen, und mit ihm gleitet auch meine Partnerin zu Boden - genau in dem Moment, in dem die Sonne jede Menge goldener Strahlen von sich gibt.

Erst da bemerke ich, wo wir uns befinden. Wir sind auf unserer Flucht durch die halbe Stadt gehastet und stehen nun auf der Stadtmauer. Gerade, als ich in weiter Ferne anrückende Soldaten sehe, kippt die Welt und wir fallen hinab in die tiefe Schneeschicht der freien Weite.

Wir haben es genau zu Tagesanbruch aus der Stadt geschafft.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt