Einundvierzig

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Snow

"Also, wenn du mit diesem Ding in mein Innerstes blicken und all die Emotionen und Gedanken sehen und hören und spüren kannst, die ich zu verstecken versuche", beginne ich im Bett liegend, mein Arm nach oben gestreckt, und betrachte das Rot des Rubins, der mittlerweile aufgehört hat zu glühen, "Kann ich das dann auch?"

Lucien liegt mit geschlossenen Augen neben mir, seine Hände über seinem Bauch gefaltet. Träge öffnet er ein Auge und blickt mich an. Damit du ein Auge auf meinen unendlichen Charme werfen kannst?, fragt er ohne die Lippen zu bewegen - und ich höre dennoch seine Stimme in meinem Kopf, als würde er ganz normal mit mir reden.

Finster blicke ich an. Bescheiden wie eh und je, schnaube ich und halte im nächsten Moment überrascht inne. "Hat das funktioniert?", hake ich laut nach.

Lucien schließt die Augen wieder, gluckst und antwortet stumm: Ich wusste, dass du es auch kannst - schließlich bist du meine andere Hälfte.

So ist er schon seit vorhin - seit wir uns miteinander ausgesprochen haben. Natürlich gibt es immer noch Dinge, die ich ihm nicht verraten habe, Dinge, die zu erforschen er in mir noch keine Zeit gehabt hat, aber... Ich fühle mich leicht. Befreit. Und ich habe gerade absolut keine Lust, mir meine Laune verderben zu lassen.

Genau in dem Moment fährt ein scharfer Schmerz durch mein Inneres und die zerbrechliche Freude, die sich in mir aufgebaut hat, zerplatzt.

"Was ist los?", fragt Lucien, er hat sich aufmerksam in einen Schneidersitz aufgesetzt und beobachtet mein Gesicht. Natürlich - natürlich hat er die Veränderung sofort gespürt. Daran werde ich mich wohl noch gewöhnen müssen. Zwar kann ich den Ring natürlich abnehmen und ihm damit diesen Einblick in mein Inneres verwehren, aber--

"Die gesamte Welt erwartet von mir, dass ich dich hasse und dich zu meinem Todfeind erkläre, da du eine Mitschuld an Ice Tod trägst", murmele ich leise und schließe die Augen, während ich überlege, wie ich meine Gefühle in Worte packen soll. Lucien hört nur still zu und lässt mir den Freiraum, den ich gerade brauche.

Und vielleicht ist es feige von mir, aber als ich die richtigen Worte endlich gefunden habe, kann ich mich dennoch nicht dazu durchringen, sie laut auszusprechen. Ich habe das Hassen so satt. Das Hassen, das Leiden, das Trauern, das... Hassen, wiederhole ich.

Dann scheiß drauf, antwortet Lucien voller Inbrunst.

Aber... Ich kaue nachdenklich auf meiner Unterlippe herum. Man erwartet von mir...

Scheiß auf die Erwartungen von anderen, wiederholt Lucien und seine Stimme ist erfüllt von Nachdruck und Überzeugung. Du lebst, um zu leben. Es ist dein Leben - wie du was wann und wo machst, liegt einzig und allein in deinen Händen, in deiner Entscheidungsgewalt.

Aber die Krone...

Scheiß auch auf die Krone. Es ist nur ein Weg von vielen, die wir gemeinsam gehen können.

Ich seufze leise und öffne die Augen, betrachte Luciens Gesicht. Gemeinsam?

Ja. Er legt sich wieder neben mich, rollt sich auf die Seite, stupst mich mit seiner Nase an meinem Hals an, woraufhin ich instinktiv erstarre. Ein Wort von dir und ich gehe wieder auf Abstand. Ein Befehl und ich führe ihn aus, egal wie er lauten mag. In seinen Augen tanzen Sterne.

Ich runzle die Stirn. Und wenn ich dir befehle, für immer und ewig an meiner Seite zu bleiben, meine Existenz zu ertragen und diese gesamte Scheiße bis zum Ende mit mir durchzuziehen, selbst wenn wir dabei draufgehen könnten?

Er grinst. Dann werde ich das mit Freuden tun.

Bei seiner Antwort muss ich lächeln, aber dann... Ich seufze wieder. Bist du dir sicher? Es wird nicht leicht werden. Mein eigenes Land und all seine Fürsten werden sich gegen mich wenden, weil sie mich für eine brutale Killerin halten - und sie werden dir das ebenfalls anhängen, wenn du an meiner Seite gesehen wirst. Dein eigenes Land wird sich gegen dich wenden, wenn wir uns Seite an Seite stellen und...

Lucien fällt aus dem Nichts regelrecht über mich her, kitzelt mich durch bis ich nicht mehr aufhören kann zu lachen und mit Tränen in den Augen regelrecht darum flehe, dass er aufhört. Als er sich über mich lehnt sehe ich sein breites Grinsen und das Leuchten in seinen Augen. Das könnte mir nicht egaler sein. Mein Herz erzittert und--

Er küsst mich - vorsichtig, zart, abwartend. Ich ziehe ihn näher zu mir und erwidere den Kuss. Als wir uns wieder ein wenig voneinander trennen, grinst er wieder. Ich treffe die Entscheidungen über mein Leben selbst, und wenn mein Volk damit nicht einverstanden sein und eine Revolte gegen mich anzetteln sollte, dann sollen sie das verdammte Königreich doch haben - solange du bei mir bist habe ich alles, was ich will.

Ich atme vor Erleichterung tief durch und hebe neckend eine Augenbraue. So nett kenne ich dich ja gar nicht. Kann ich mich darauf verlassen, dass diese Krankheit dir noch für eine Weile die Sinne vernebeln wird?

Und wie, lacht er schallend und küsst mich noch einmal, tiefer diesmal, fordernder. Und als ich den Hunger in seinen Augen aufblitzen sehe, als ich mein eigenes Verlangen nach mehr spüre...

Ein leiser Laut entfährt meiner Kehle. Ist es sehr egoistisch, wenn wir uns noch für ein paar weitere Stunden hier drin einschließen und die ganze Arbeit auf die anderen abladen?

Unsere kleine Familie kann sich bestens selbst beschäftigen, schnauzt er mit einem Grollen in seiner Stimme. Ich habe aus Rücksicht auf sie schon viel zu lange auf das hier gewartet, schnurrt er und küsst mich ein weiteres Mal - doch diesmal voller Leidenschaft.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt