Achtundzwanzig

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Linus

Mit demselben dümmlichen Lächeln von zuvor sitze ich an einem langen Esstisch mit einem Haufen bärtiger, ungepflegter Männer.

Es könnte schlimmer sein, das weiß ich - immerhin schmeckt das Essen gut, der Tisch ist reichlich gedeckt, es steht Alkohol zur Verfügung (den ich in stummer Absprache mit Lia nicht anrühren werde), und fürs Erste scheinen wir wirklich wie Gäste behandelt zu werden.

Noch wurde niemand verletzt oder getötet, man hat uns nicht ausgeraubt und - meine Eifersucht von zuvor ist wie weggeblasen, was unter anderem daran liegen könnte, dass meine Sinne auf etwas ganz anderes fokussiert sind. Vielleicht erscheint mir deswegen auch die gesamte Lage nicht mehr ganz so bedrohlich und gefährlich.

Denn Lia rekelt sich grinsend auf meinem Schoß, einen Arm um meinen Hals geschlungen, die andere mit einer Gabel bewaffnet, um das Essen zu genießen.

Essen, das sie angesichts ihres federleichten Gewichts dringend nötig hätte - oder das würde ich zumindest denken, wenn ihr Körper nicht wohlgenährt aussehen würde. Wie macht sie das nur?

Meinen Mantel hat sie ausgezogen, nachdem wir das alte, menschenleere Hotel betreten haben, und ihn in einem separaten Raum aufgehängt - wodurch man ihre Rundungen hervorragend unter der freizügigen Kleidung der solischen Huren erkennen kann.

Während ich mich auf meine Rolle des stillen, gutgläubigen Schoßhündchens von Lia konzentriere, ist sie diejenige, die sich ausgelassen mit den Männern unterhält. Das Hotel ist halb verfallen und außer den bärtigen Männern hier - und uns - befindet sich keine einzige Menschenseele hier drin.

Die Kerle haben sich vorgestellt, aber ich habe ihre Namen sofort wieder vergessen. Schließlich sind wir nicht hier, um uns zu amüsieren oder fragwürdige Gesellschaft zu genießen, sondern um unser Ziel zu verfolgen: Auf ein Schiff zu steigen und nach Luna auszuwandern - und was danach passiert, überlegen wir, wenn wir unterwegs sind.

Durch ihre Zeit im Bordell hat Lia von einer Gruppe ehemaliger Piraten gehört, die sich in einem alten Hotel verschanzt hat. Es soll wohl einen unterirdischen Hafen geben, in dem dutzende Schiffe lagern, mit denen sie früher andere, nahende Schiffe gekapert und geplündert haben sollen - und die sie nun nur noch für den Fischfang nutzen.

Da Lucien bei seiner Flucht aus Sol gemeinsam mit Snow alle Häfen samt ihren Schiffen zerstört hat, ist dieser Ort hier unsere derzeit letzte Hoffnung, aufs offene Meer zu gelangen.

Lia kneift mich unauffällig in den Arm, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. "Oh Liebster", hickst sie, "Sei doch so nett, und bring mir die Muschelkette aus meiner Manteltasche, die du für mich gebastelt hast, während ich die Gesellschaft unserer Gastgeber genieße, ja?", säuselt sie mir, unterbrochen von ihrem Schluckauf, ins Ohr. "Ich will den werten Herren deine Kunstfertigkeit beweisen - sie scheinen ja selbst recht begabt zu sein, wenn man ihren Worten Glauben schenken darf." Lias Augen leuchten trüb und von ihr geht eine deutliche Alkoholfahne aus - sie hat mir verboten, den Alkohol anzufassen, hat sich selbst jedoch wie eine Verdurstende zugeschüttet.

Ja, es gibt tatsächlich eine Muschelkette in der Manteltasche - das einzig wertvolle darin. Nur habe nicht ich, sondern Lia selbst sie angefertigt, als wir auf dem Weg hierher waren. Sie überrascht mich immer wieder mit ihren vielen Talenten.

Ich zwinge mich zu einem sinnlichen Lächeln und einem lasziven Blick. "Aber gerne doch, Geliebte", hauche ich ihr ins Ohr und beiße ihr leicht ins Ohrläppchen.

Sie zwinkert mir kokett zu, die Wangen gerötet vom Alkohol und drückt mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange. Ich unterdrücke das Verlangen, mir über die Wange zu wischen. "Du bist wirklich ein Schatz", flötet sie, hickst und erhebt sich. Im Aufstehen stolpert sie einen Schritt nach hinten und hält sich gerade noch so mit der Hand an der Tischkante fest. "Huch, esch dreht sich ja alles", murmelt sie.

Bis jetzt war ich mir recht sicher, dass sie ihre Betrunkenheit nur spielt, aber jetzt kommen mir doch leise Zweifel, ob ich sie wirklich in diesem Zustand alleine mit den Fremden lassen sollte. Ich habe selbst gesehen, wie sie sich einen Becher nach dem anderen in den Hals gekippt hat - ich an ihrer Stelle wäre längst umgekippt. Kann ich mir da wirklich so sicher sein, dass sie nur so tut, als sei sie hoffnungslos betrunken?

"Vielleicht solltest du dich ausruhen, Herzchen", halte ich sie fest, bis sie ihr Gleichgewicht wieder erlangt hat. Auch ein gutgläubiges, vor Liebe verrücktes Schoßhündchen würde sich an dieser Stelle Sorgen machen, nicht wahr?

Sie winkt träge ab. "Ach wasch, mir gehtsch super - hicks -, die Nacht ist doch noch jung - hicks - und es ischt schon eine Weile her, dass ich misch so köstlich amüsiert hab", nuschelt sie. "Du machscht dir nur viel zu viele Sorgen wieder."

Die Männer betrachten das Ganze schweigend mit einem erheiterten Grinsen.

Lia löst sich aus meinem Griff, torkelt zu einem der Männer hinüber und stolpert bei den letzten Schritten direkt in seine Arme. "Ich bin mir sischer, die passen schon auf mich auf, bisch du mit der Kette zurück bist", winkt sie in Richtung Tür, umhüllt von den behaarten, freigelegten Armen des Mannes, der in der Bewegung des Auffangens ihre Brüste mit seinem Oberkörper gestreift hat.

Wut lodert in mir bei dem schmutzigen Grinsen in seinem Gesicht auf, aber ich ersticke dieses Gefühl. Ich habe hier eine Rolle zu spielen. Lia ist sicher genauso wenig begeistert - oder?

Sie grinst abwesend und kichert und hickst abwechselnd über etwas, das einer der Männer gesagt hat. Sie sieht aus... Sie sieht aus als würde sie sich wirklich amüsieren. Und als wäre sie tatsächlich stockbetrunken.

Nein, das muss ich mir einbilden, versuche ich mich abzulenken, wende mich ab und mache mich auf den Weg um diese verfluchte Kette zu holen. Lia ist sicherlich einfach nur eine begabte Schauspielerin. Oder?

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt