Dreiundfünfzig

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Snow

Die Sitzung ist ohne eindeutigen Beschluss beendet worden.

Cheri, Lucien und Fire haben dafür gestimmt, Su'ul zu Hilfe zu eilen und die Stadt zu verteidigen. Ein gutes Gesicht zu wahren, den Schwachen zu Hilfe zu eilen, die Retter in strahlender Rüstung zu werden. Wir wären die Helden, die Guten, und wir könnten dadurch noch mehr Unterstützung erfahren. Wir könnten dadurch einige Söldner vor Ort auf unsere Seite ziehen, wir könnten die Hilfe der Bürger erlangen, könnten an eine sichere Quelle an Nahrungsmitteln, Kleidung und Waffen gelangen.

Hugo, der Schrank von Mann und Ann haben dagegen gestimmt. Su'ul ist nicht die erste Stadt, die von Uman und Soldaten angegriffen wird - und sie wird wohl auch nicht die Letzte sein, ehe wir diesen Krieg zu einem Ende gebracht haben. Helfen wir nun dieses eine Mal, werden die Menschen das so interpretieren, dass wir ausschließlich unseren eigenen Leuten helfen. Dass uns Sol egal ist - dass wir die Bürger von Sol ausschließen - immerhin haben wir ihr Land in den Händen meines Vaters gelassen und sind geflohen. Zusätzlich sind unsere eigenen Zahlen stark beschränkt - die Stadt zu verteidigen würde bedeuten zu riskieren, dass wir noch weniger werden.

Die endgültige Entscheidung liegt bei mir. Ich habe mich in der Sitzung enthalten. Ich muss nachdenken, aber mein Kopf ist vollkommen leer und zeitgleich viel zu voll.

Die ganze Festung summt vor Betriebsamkeit - egal ob wir nun Su'ul zu Hilfe eilen oder nicht, es ist die Zeit gekommen zu handeln. Es ist die Zeit gekommen, vorzurücken. Egal wie ich entscheide, wir werden die Festung verlassen und dem Ende des Krieges entgegen arbeiten.

Ich bin mit so schnellen Schritten aus dem Raum gestürmt wie ich konnte, wobei meine Haare wie ein weißes Banner hinter mir herwehen.

"Snow", mahnt Lucien, der hinter mir her stürmt. Er hat zweifelsohne gespürt, wie meine Entscheidung lautet - und es sich zur Aufgabe gemacht, mich umzustimmen. "Wir können diese Menschen nicht im Stich lassen - sie haben uns explizit um Hilfe gebeten. Ignorieren wir sie, riskieren wir zusätzlich einen Bürgerkrieg, kaum dass wir den anderen ausgefochten haben."

Noch eine Last auf meinen Schultern, noch ein Risiko das es zu bedenken gilt. Ich beschleunige meine Schritte und ignoriere ihn.

Viel zu schnell sind wir in unserem Schlafzimmer angekommen und ich kann nicht länger wegrennen. Lucien packt mich am Handgelenk und wirbelt mich zu sich herum - in seinen Augen glüht ein Feuer. "Wir kommen mit einem einzigen Krieg bereits kaum zurecht. Wenn wir nichts unternehmen, dann wird alles noch viel schlimmer. Mit jeder Sekunde die wir zögern, sterben da draußen Menschen!"

"Ich weiß!", fauche ich zurück, reiße mich aus seinem Griff los und stürme zu einem der Fenster. Das wilde Schneetreiben beruhigt mich für gewöhnlich, doch in diesem Fall hat es den Effekt, dass es mich nur noch wütender macht. In meinen Ohren rauscht und klingelt es, ein gefährliches Zeichen. Mein Magen verkrampft und ich presse eine Hand an die Stelle.

"Was hindert dich daran zu helfen? Warum sträubst du dich so sehr dagegen den Befehl zum Ausrücken zu erteilen?", appelliert er drängend an meinen Verstand.

Übelkeit wallt in mir auf, Tränen der Verzweiflung brennen in meinen Augen - ich schließe sie und beiße die Zähne zusammen, balle die freie Hand zu einer Faust. Ich merke, wie die Worte sich in mir anstauen, nicht länger lügen wollen, wie eine Lawine die jeden Moment herunterstürzt. "Ich", setze ich an und meine Stimme bricht.

Ich spüre mehr als dass ich es sehe, wie Lucien den Kopf schief legt. Zweifelslos horcht er gerade durch unsere Verbindung in meine Emotionen hinein, aber meine Gedanken liegen zu tief verborgen, sind zu gut geschützt. "Snow", murmelt er sanft. "Du-- Du fühlst gerade so viel, zu viel, ich verstehe nicht--" Er seufzt. "Bitte rede mit mir, Snow. Denn ich--"

Ich kann nicht mehr. Eine Hand haltsuchend an das Fenstersims gekrallt übergebe ich mich.

Fluchend springt Lucien vorwärts und streicht mir die Haare aus dem Gesicht, blickt mich panisch auf der Suche nach einer Antwort an.

Ich kann nicht mehr. Weder schauspielern noch lügen. Meine Tränen fließen ungehindert über meine Wangen. "Ich bin schwanger, Lucien", flüstere ich schwach.

Ich spüre die Welle des Schocks, die ihn ergreift.

"Snow!" Eine Tür wird aufgerissen, Hugo starrt mich aus großen Augen voller Panik an. Für einen Moment hält er inne als er das Erbrochene vor mir sieht und meine Tränen erkennt, aber ich winke ab und bedeute ihm weiter zu sprechen. "Wir müssen sofort los - nach Su'ul. Es geht um Freya", meint er mit rasselndem Atem.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Freedom war in Su'ul stationiert um unsere Verbindungen zu stärken...

Hugo sucht meinen Blick, versucht sich so an mir festzuklammern, Halt zu finden. Aber ich stürze genauso wie er in eine Grube aus Verzweiflung. "Sie ist inmitten des Geschehens und evakuiert die Bürger so gut es geht. Ein paar Söldner und Soldaten vor Ort versuchen wohl die Stellung zu halten, aber es sind zu viele. Viel zu viele Uman. Wenn wir nicht bald etwas tun..."

...wird die Stadt fallen, und Freedom mit ihr.

Freedom, dieses kleine Mädchen voller Lebensfreude, dieses kleine Licht an Hoffnung, das mich schon so weit vorangebracht hat... Ich spüre mein Eis in mir brodeln, doch ich zwinge es hinab.

"Versammle alle Teleporter. Wir brechen in wenigen Minuten auf", verkünde ich mit glühenden Augen und ignoriere Luciens schockierten Blick - aber ich weiß, wenn die Schlacht überstanden ist, werden wir uns ausgiebig unterhalten müssen.

Über dieses kleine Leben in meinem Körper.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt