Einunddreißig

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Linus

Unruhig laufe ich in meinem Zimmer auf und ab.

Nachdem ich Lia mitgeteilt habe, dass ich die verdammte Muschelkette in ihrer Manteltasche leider nicht finden konnte, und dass sie sie vermutlich irgendwann auf dem Weg verloren hat - obwohl für uns beide offensichtlich ist, dass die Piraten sie gestohlen haben -, habe ich mich frühzeitig zu Bett verabschiedet, mit der Begründung, müde zu sein.

In der Rolle des naiven Liebhabers von Lia, für den die Welt rosarot und brav und mit Einhörnern gefüllt war, schöpfte niemand verdacht, als ich meine angebliche Partnerin stockbetrunken in der Obhut eines Haufen Fremder gelassen habe.

Jetzt warte ich nur noch darauf, dass Lia auch endlich ihren Hintern hier her schwingt.

Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Was, wenn wir durchschaut wurden? Was, wenn die Piraten zu aufdringlich geworden sind und Lia sich nicht gegen sie behaupten konnte? Was, wenn Lia mich hier zurückgelassen hat - wenn sie mich verraten hat? Was, wenn sie tatsächlich zu betrunken ist, um klar zu denken? Was, wenn sie den Plan ganz einfach vergessen hat? Was, wenn sie meine Hilfe braucht?

Nein, in jedem Fall muss ich in diesem Zimmer bleiben, sonst fliegt alles auf. Lia hat mich angewiesen, mich um jeden Preis an den Plan zu halten. Zwar kenne ich sie noch nicht lange, aber sie ist nicht hilflos. Sie kann sich verteidigen. Sie ist klug - und sie würde niemals den Fehler machen, einen Plan vorzuschlagen, den sie nicht vollkommen durchziehen könnte.

Das versuche ich mir zumindest einzureden.

Als die Tür endlich aufgeht und Lia in das Zimmer hineinschlüpft sind bereits Stunden vergangen, seit ich mich zurückgezogen habe. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse kann ich im Mondschein erkennen, wie hochrot ihre Wangen durch den vielen Alkohol sind. Mit einem leisen Seufzen schließt sie hastig und lautlos die Tür. "Sie schlafen endlich alle", teilt sie mir flüsternd mit, hockt sich aufs Bett und beginnt, ihren Zopf aufzulösen und sich mit den Fingern durch die Haare zu kämmen.

"Was hast du so lange gemacht?", fahre ich sie mit gedämpfter Stimme an.

Ruhig sieht sie mich an. "Den Idioten Honig ums Maul geschmiert. So getan, als sei ich hilflos. Ihnen vorgegaukelt, dass ich stockbetrunken sei und mich am nächsten Morgen an nichts von dem erinnern können würde, was sie mir erzählt haben. Informationen eingeholt. Den Plan eben befolgt." Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. "Wenn du damit andeuten willst, dass du denkst, ich hätte es tatsächlich mit diesen ungewaschenen, dreckigen Säcken getrieben, dann werde ich dir eigenhändig den Hals umdrehen. Ich hab für mein ganzes Leben genug davon, mich von Fremden berühren und wie ein Werkzeug behandeln zu lassen."

Meine Wut verraucht und zurück bleibt nur Verwirrung. "Es ist unheimlich, wie gut du schauspielern kannst."

Leise schnaubt sie. "Wenn man die Dinge durchlebt hat, die mir passiert sind, dann muss man das eben können." Der Anblick von Lia mit offenen Haaren ist ungewohnt - aber definitiv nicht unangenehm. Ihr ureigener Geruch nach seidenen Laken und Kirschen steigt mir in die Nase, als sie an mir vorbei zum Fenster stolziert und sich an das Fensterbrett anlehnt. Den Blick nach draußen gerichtet, beginnt sie mir ein klein wenig von ihrer Vergangenheit zu erzählen.

"Da wo ich herkomme ist es Brauch, dass die Kinder mit acht anfangen zu lernen, wie man sich selbst verteidigt, egal ob man das will oder nicht. Einem wird beigebracht, wie man einen Gegner am schnellsten entwaffnet, wie man sich aus allerlei Angriffen befreit, ausweicht, sie abblockt, wie man einem Gegner am schnellsten das Bewusstsein raubt - und ihn gegebenenfalls ins Jenseits befördert. Das eigene Durchhaltevermögen wird gestärkt, man sammelt gezwungenermaßen Erfahrung darin, welche Wunde oder Krankheit sich wie anfühlt, wie man sie behandelt, dagegen vorgeht, welche Schritte wann zu ergreifen seien.

Mit zwölf ist die Grundausbildung dann abgeschlossen - und man wird, abhängig von den eigenen Leistungen, entweder zurück in das eigentliche Leben geworfen, oder zu einem Attentäter ausgebildet, als welcher man wie ein Werkzeug ohne eigenen Willen behandelt wird.

Natürlich war die Folge dessen, dass jeder versucht hat, möglichst im Mittelfeld zu bleiben, um nicht durchzufallen - und somit zu sterben -, aber zugleich auch nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen und somit in dieses gefährliche Leben gezwängt zu werden.

Das war auch mein Plan gewesen, aber die Dinge liefen während einer Prüfung nicht ganz so wie geplant, wodurch ich als äußerst vielversprechend eingestuft wurde. Auf die vier Jahre Grundausbildung folgten für mich also weitere zwei Jahre Training, um aus mir eine Assassinin zu machen.

An mir wurden unterschiedliche Gifte probiert und wie mein Körper auf sie reagierte, mir wurde beigebracht welche Symptome die Folge waren und wie man sie kurierte, außerdem natürlich unzählige unterschiedliche Techniken, um jemanden zu foltern, zu brechen oder zu töten, sowie der Umgang mit allerlei Waffentypen." Sie schnaubte leise. "Du wärst überrascht, wie viele Wege es gibt, jemanden sogar allein schon mit bloßen Händen hinzurichten."

"Natürlich wurde ich auch darauf gepolt, meine Aufträge um jeden Preis zu erfüllen, egal ob ich dafür meinen Körper, meine Seele oder meinen Verstand verkaufen müsste. Wenn mein Auftrag also daran scheitern sollte, dass ich zu viel getrunken hätte, dann wären all die Opfer und die Jahre der Hölle auf Erden umsonst gewesen, die ich durchgestanden habe."

"Und was ist dein derzeitiger Auftrag?", hake ich zögerlich nach und hocke mich auf das Bett.

Sie wendet sich mir zu und ihre amethystfarbenen Augen schimmern mysteriöser denn je im Mondschein. "Herausfinden, wie man in Frieden lebt."


Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt