Sechs

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Linus

Die Köpfe gesenkt, die Körper angespannt - so schleichen das Mädchen und ich über die schneebedeckten Dächer der Hauptstadt Sols. Seit wir vor Stunden beinahe von einer Patrouille erwischt worden wären, haben wir kein einziges Wort miteinander gewechselt. Wir bewegen uns einfach vorwärts, schwingen uns bedacht und leise von Dach zu Dach, und versuchen, möglichst schnell voranzukommen.

Der Schnee ist eine große Hürde. Ganz abgesehen davon, dass er uns verlangsamt und das Risiko abzurutschen massiv erhöht, ist es unmöglich, sich unbemerkt darin fortzubewegen. Überall wo wir hintreten sieht man unsere Fußabdrücke, überall wo wir entlangklettern rieselt das Zeug hinab und verdichtet sich zu kleinen Häufchen.

Wenn wir die Stadt nicht vor Morgengrauen verlassen haben sollten, wird man uns definitiv auf die Schliche kommen. Dann sitzen wir in der Falle. Es ist ein pures Rennen gegen die Zeit.

Davon abgesehen, ist es um meine Ausdauer nicht sonderlich gut bestellt. Ich habe es bereits vor einer Weile aufgegeben, zu versuchen, leise zu atmen oder meinen Atem abzuschirmen. Mit jeder Sekunde wird mein Körper schwerer und mein Geist müder - die verfluchten Folgen dessen, dass ich mich in den letzten Wochen habe gehen lassen, und einfach nur von Bordell zu Bordell geschlichen bin, um den Soldaten zu entwischen. Nicht zu vergessen der Alkohol der vielen Krüge, die ich vor Stunden in mich hineingekippt habe.

Das Mädchen dagegen scheint solche Ausflüge gewohnt zu sein. Ich frage mich wirklich, wer sie ist - und wie es kommt, dass eine Kurtisane sich derart virtuos bewegen kann. Sie ist wie ein anmutiger Panther, wie sie so flink und wendig über die Dächer huscht, sich an der Regenrinne festklammert, zum nächsten Dach schwingt, und das Prozedere dort wiederholt. Sie wirkt geradezu so, als sei sie gerade eben erst aufgestanden - kein einziges Zeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung.

Dafür wirft sie immer wieder alarmierte Blicke zurück - zu mir, der immer mehr zurückbleibt. Ich spüre vor Kälte meine Arme und Beine nicht mehr, und doch tut mir alles weh. Mein Kopf pocht schmerzhaft - eine weitere Folge des vielen Alkohols - und meine Augen brennen. Es wäre so verlockend, sie einfach nur für eine Sekunde zu schließen, kurz inne zu halten, und sich der Müdigkeit hinzugeben. Nur eine Sekunde.

Eine Sekunde, die wir nicht haben.

So schleppe ich mich Schritt für Schritt für Schritt mit zusammengebissenen Zähnen hinter der Kurtisane her und hätte fast erleichtert aufgeschrien, als sie plötzlich stehen bleibt.

Einen Finger an den Lippen dreht sie sich zu mir um und winkt mich näher heran. In der Dunkelheit kann ich gerade einmal ihre Silhouette ausmachen - der Mond ist zu einem Großteil hinter Wolken verborgen.

Als ich endlich bei ihr angekommen bin, gestatte ich es mir, zu Atem zu kommen und das Wort zu ergreifen. "Was ist los?", frage ich flüsternd, meine Stimme so leise wie das Fallen der Schneeflocken um uns herum. "Warum bleiben wir stehen?"

Mit fahrigen Fingern beginnt das Mädchen, ihren zerzausten, langen Zopf wieder aufzulösen und neu zu flechten. In ihren schwarzen Haaren haben sich Schneeflocken verfangen, die sie irgendwie wie eine Schneeelfe aussehen lassen. Stumm deutet sie mit dem Kopf nach vorne.

Stirnrunzelnd versuche ich in der Dunkelheit etwas in der Richtung auszumachen, in die sie gedeutet hat - und erkenne tatsächlich so etwas wie eine pechschwarze Wand, die die Hälfte des Daches abtrennt. So etwas habe ich noch nie gesehen, und automatisch bekomme ich Gänsehaut. Was auch immer das ist, es verströmt keine gute Aura. Fragend werfe ich meiner Komplizin einen Blick zu, aber sie ist zu beschäftigt damit, mit ihren Fingern durch ihre Haare zu fahren und die entstandenen Knoten einigermaßen zu lösen.

Neugierig erwische ich mich dabei, wie ich meine Hand ausstrecke, um diese.. Wand zu befühlen, aber das Mädchen schlägt mir hastig auf die Finger. "Wag es auf gar keinen Fall, das Zeug anzufassen!", zischt sie.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt