Sechsundvierzig

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Cheri

Die Fackel in meiner Hand knistert leise, während ich an den Regalen entlang gehe und mit der Hand über die Bücherrücken streiche. Mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meinem Gesicht, so kalt ist es hier unten.

Wir haben uns tiefer vorgewagt als sonst. Langsam sind wir etappenweise immer tiefer in die Kellergeschosse der Festung vorgedrungen, immer auf der Suche nach allerhand Dingen, die uns von Nutzen sein könnten: konservierte Nahrungsmittel, Bücher, Waffen, Kleidung, Decken, Kissen, Metalle... Im ersten Kellergeschoss hatten sich Stoffe und Gewänder gestapelt, im Zweiten Bettwäsche, im Dritten konservierte Nahrungsmittel...

Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Stockwerke dieser Keller hat. Es ist, als wäre dies hier eine zweite, eine eigenständige Festung - ein geheimer Bau, direkt unter dem allerseits sichtbaren.

"Wir sollten für heute langsam Schluss machen", ermahnt mich eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Saals. Ich werfe ihm einen kalten Blick über die Schulter zu. Er hat sein Schwert fest in der Hand, die Spitze zu Boden gerichtet, und steht breitbeinig und angespannt an Ort und Stelle, während er in eine kleine Kammer späht. Jederzeit bereit, eine Gefahr jeglicher Art abzuwenden.

Mein Beschützer. Ich schnaube leise.

"Eine Etage noch", wehre ich nach einem kurzen Blick auf die Fackel in meiner Hand ab. Wir haben noch genug Zeit. Meine Schritte hallen lautstark von den Wänden wider, als ich zu der Tür gehe, die zur nächsten Treppe hinab führt.

"Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache", murmelt der Schrank von Mann und folgt mir mit schnellen Schritten. "Wir sollten nicht hier sein. Das sollte niemand."

Oh, Wunder, denke ich und verdrehe die Augen. Das sagt er bereits seit wir auch nur einen einzigen Fuß in die Kellergeschosse gesetzt haben. "Wenn du dich so unwohl fühlst, dann geh eben zurück nach oben", winke ich mit einer Hand ab. "In all der Zeit hat uns hier unten noch nichts aufgelauert. Ich komme hier also auch bestens ohne dich und deine Paranoia zurecht."

Ich spüre sein Zögern, es erfüllt die Luft förmlich. Und wie jedes Mal, wenn wir diese Diskussion führen, fällt seine Antwort gleich aus: "Ich habe meine Befehle, die darf ich nicht missachten."

"Ja, ja", seufze ich und steige die Treppe hinab. Die Stufen sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt - hier unten war schon seit einer halben Ewigkeit niemand mehr. Lange genug, dass jedwede Bedrohung längst dem Zahn der Zeit anheim gefallen sein dürfte.

Mit der Fackel in der Hand beuge ich mich ein wenig vor und blicke die sich windende Treppe hinab. So tief hinab führt sie gar nicht - ich kann dank des Schwachen Scheins der Fackel erkennen, wo sich die nächste Tür befindet.

Eine Hand an die Wand gelegt, die andere fest um die Fackel gekrallt - so taste ich mich langsam voran und überprüfe jede steinerne Stufe, bevor ich mich mit meinem gesamten Gewicht darauf stelle. Dieser Ort ist unfassbar alt - es könnte jeden Moment sein, dass die Treppe in sich zusammenbricht und uns hier unten einsperrt. Das ist eine Gefahr, vor der man sich schützen sollte. Da würden allerdings alle noch so tollen Kampfkünste und Waffen nicht helfen.

Ich kann verstehen, dass Lucien und die anderen sich Sorgen machen. Unsere Truppe ist bereits klein genug und wir haben ein... mehr oder weniger familiäres Verhältnis untereinander. Der Verlust auch nur eines einzigen wäre fatal - nicht zuletzt für Snow, die jede noch so geringe Unterstützung gebrauchen kann, die sich finden lässt.

Der Gedanke versetzt mir nach all den Jahren immer noch einen Stich. Einst habe ich eine wirkliche Familie besessen, bin eine glückliche Frau gewesen mit einem liebevollen Ehemann und einer traumhaften Tochter...

Bis mir das alles genommen worden ist. Von einem Tag auf den nächsten.

Ein leiser Aufschrei löst sich aus meiner Kehle, als ich auf einer Stufe abrutsche und auf dem Hintern lande. Sofort höre ich die panikerfüllte Stimme des Mannes hinter mir. "Cheri! Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?" Sein Poltern klingt ohrenbetäubend in der Stille.

"Ja", murre ich stirnrunzelnd, während ich aufstehe und den Staub von meinem Körper abklopfe. "Ich bin nur-"

Ich verstumme, als mein Blick zu Boden gleitet. Zu der Stelle, an der ich ausgerutscht bin. Die Stufen sind alle hart und klobig, nicht viel mehr als rechteckige Steinklötze, die versetzt aufeinander gestapelt wurden - aber diese ist anders. Sie ist zur Hälfte... abgeschabt.

Tiefe Krallenspuren ziehen sich durch das Gestein, so zahlreich und wirr nebeneinander, dass es aussieht, als hätte sich jemand mit aller Macht daran festgeklammert und dabei die Hälfte der Stufe mit gerissen. An der Wand daneben ziehen sich diese Spuren weiter, als wäre die Kreatur fortgezerrt worden, bis... Bis zur Tür, die aus dunklem Metall besteht und mit blauen Steinen versetzt ist - und die sich zu einem Teil nach außen wölbt.

Lapislazuli - Ein Gestein, das die Macht der Elementgeborenen neutralisiert und sie temporär zu ganz gewöhnlichen Menschen degradiert.

Ein kalter Schauer überläuft mich. Das sieht schon eher nach einer Bedrohung aus, der man mit Schwert und Kampfeswillen begegnen sollte.

"Was jetzt?", fragt der Schrank stirnrunzelnd hinter mir. "Sollen wir hoch gehen und Verstärkung anfordern, bevor wir uns weiter hinabwagen?"

Nachdenklich betrachte ich die Stufe, die Wand, die Tür. Wir sind nun schon so weit hinabgedrungen... "Jetzt umzukehren würde uns kostbare Zeit kosten", murmele ich leise. Aber wenn wir die Tür öffnen würden, und uns würde sofort irgendeine Kreatur entgegen springen, dann könnte uns das in große Schwierigkeiten bringen... Aber die Neugier nagt an mir und...

Ich schlucke schwer. "Wir sollten... zumindest einen Blick riskieren", entscheide ich und strecke fordernd die Hand aus. "Gib mir einen schmalen Dolch."

Betont langsam, als wolle er mir Zeit lassen, um meine Entscheidung zu überdenken und doch noch einen Rückzieher zu machen, greift der Schrank von Mann nach einer der Waffen in seinem Gürtel, die er mir daraufhin behutsam reicht.

Meine Kehle ist staubtrocken und meine Hände fangen an zu schwitzen, so nervös bin ich. Welche Art an Kreatur ist in der Lage, solche Spuren auf Stein zu hinterlassen? Ich betrachte die Tür noch einmal. Es sieht so aus, als hätte jemand von der anderen Seite aus mehrere Hiebe gegen die Tür gelandet...

Aber dieser Ort ist alt. Die Staubschicht auf der Treppe war unberührt. Was auch immer es gewesen ist, es dürfte längst tot sein.

Ich knie mich vor die Tür und schiebe den Dolch unter den schmalen Türspalt, um ihn als eine Art Spiegel zu nutzen und in den Raum dahinter zu spähen.

Die Wände sind bedeckt mit Krallenspuren, tiefe Rillen, die sich durch das Gestein gegraben haben. Ketten hängen herab, Türen führen zu unterschiedlichen kleinen Kammern, Knochen liegen herum... Und überall ist Lapislazuli. In den Wänden, im Boden, in den Ketten, in den Türen - überall. Sogar in einigen der braunen Knochen...

Zwei grünliche Lichtpunkte leuchten gerade noch in einer Ecke - plötzlich springen sie vor und ein lautstarkes Fauchen erklingt.

Mit rasendem Herzen und großen Augen zucke ich zurück. Das grausige Geräusch hallt ohrenbetäubend wie ein Glockenschlag von den Wänden wider und vor Schmerz schneide ich eine Grimasse. Der Schrank von Mann neben mir ist blass geworden, das Schwert in seiner Hand zittert leicht - doch sein Blick ist nicht auf die Tür gerichtet, vor der wir stehen.

Nein, er blickt nach oben, zur Treppe, von der wir gekommen sind...

Denn dort erblühen unzählige von diesen Lichtpunkten und erwidern das Fauchen der Kreatur.


Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt