Acht

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Freedom

[Unangetastet lasse ich den Rucksack offen auf dem Boden liegen, genauso wie das Geheimfach, und drehe mich mit zitternden Beinen zu ihm um. Das ist das erste Mal, dass ich ihm ins Gesicht sehe, seit ich aus dem Beratungssaal gestürmt bin - und der Anblick droht mich wie erwartet von den Füßen zu reißen.]

Seine Augen blitzen nicht kampfbereit oder herausfordernd, wie ich es erwartet habe.

Die schiere Sorge, die Angst in seinen silbernen Augen, lässt mein Herz erzittern. Ich kann die Worte, die in ihm kreisen, förmlich in seinem Blick lesen. Er hat Angst, unfassbare Angst davor, dass er mich verliert, dass ich verschwinde.

Mein Hals ist plötzlich staubtrocken und ich atme tief durch, denn ich muss die folgenden Worte sagen, ihn diesen Teil von mir sehen lassen... ihm dieses Fragment meiner Seele offenlegen, so, wie ich das Geheimfach unter den Steinen offenbart habe.

"Man hat versucht, mich als Sklavin nach Sol zu bringen", beginne ich mit erstickter Stimme. "Ich habe die Hoffnung aufgegeben - meine Welt lag in Trümmern, meine Mutter - die einzige Familie, die ich gehabt habe - wurde von den Soldaten des lunischen Königs hingerichtet, weil sie einen ihrer betrunkenen Kunden ermordet hat, nachdem er versucht hat, sich an mir zu vergreifen, irgendein Fremder hat mich einfach so verkauft, nachdem ich durch die Straßen geirrt bin..." Ich schlucke schwer und schüttele den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben, den Blick fest auf die Steinwand gerichtet. Ich kann es gerade nicht ertragen, in Hugos Augen zu sehen. Zuerst muss ich ausreden, ihm meine Gründe darlegen...

"Ich war verloren. Auf dem Schiff, das mich und weitere Opfer nach Sol bringen sollte, hat ein Matrose versucht, mich zu vergewaltigen und ich konnte mich vor Angst nicht bewegen, konnte die Erinnerung daran nicht abschütteln, wie es dieser Betrunkene im Bordell versucht hat, ehe meine Mutter ihn getötet hat. Ich habe geschrien und geweint und mich nach Kräften gewehrt, aber ich war zu schwach. Und dann... Dann hat Snow mich gerettet. Sie hat den Matrosen gefrieren lassen, von einem Wimpernschlag auf den anderen, und mich von meinen Ketten befreit. Sie ist als einzige für mich eingetreten - die anderen haben weggesehen, und ich kann es ihnen nicht verdenken, denn ich habe es in den vorangegangenen Nächten genauso getan", fahre ich fort, ein zynisches Lächeln auf den Lippen.

"Zur Strafe hat man mich und Snow am nächsten Morgen bis zu unserer Ankunft in Sol an die verrostete Reling des Schiffes gekettet, genau zu der Zeit, als ein Sturm angebrochen ist. Ich wäre fast ertrunken, wenn Snow mich nicht gerettet hätte. Sie hat uns mit ihrem Eis vor dem Meer abgeschirmt, meinen Geist durch die grobe Schilderung ihrer eigenen Lebensgeschichte wachgehalten, und mich somit nicht nur körperlich, sondern auch seelisch am Leben gehalten."

Bei den folgenden Worten kann ich den Selbsthass nicht unterdrücken, der in meiner Brust aufwallt. "Als ich bei der Auktion erfahren habe, dass es ihr eigener Bruder war, der die Soldaten angeführt hat, die meine Mutter vergewaltigt und anschließend hingerichtet haben, ist etwas in mir zersplittert und ich habe mich wie ein kleines Kind in eine Ecke verzogen und geheult. Ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, aber... Snow hat mich gezwungen, zuzuhören. Sie hat es mir erklärt. Alles. Dass ihr Bruder selbst gewütet hat, weil man meiner Mutter das alles angetan hatte, und... dass er die Mörder meiner Mutter eigenhändig abgeschlachtet hat. Und als ich das erfahren habe... konnte ich nichts weiter tun, als sie anzustarren." Ein bitteres Lachen wallt erneut in meiner Brust auf, diesmal jedoch gegen mich selbst gerichtet: "Ich hätte sie auf Händen und Knien um Verzeihung bitten sollen, aber stattdessen habe ich nichts getan und sie in dem Glauben gehen lassen, ich würde sie für immer hassen."

Wieder schüttle ich den Kopf, schließe die Augen. "Das war genau zu der Zeit, als sie Lucien begegnet ist. Er hat Snow bei der Auktion gekauft - und nach dem Trubel, den er dadurch verursacht hat, nachdem er gesehen hat, wie nahe Snow und ich uns gestanden haben, trotz der kurzen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, hat er auch mich gekauft. Er hat mich im Schloss wohnen lassen, hat mir erlaubt, dass ich mich in den Waisenhäusern der Stadt um die Kinder kümmern konnte - da habe ich Cheri kennengelernt, die ihre eigene Tochter in einem untergebracht hat, um sie vom solischen König fernzuhalten. Sie hat ihm nie getraut", bei der Erinnerung daran stiehlt sich ein kleines Grinsen auf meine Lippen, das jedoch schnell wieder verblasst.

"Irgendwann wurde Snow in Ketten gelegt, und niemand aus dem Personal - mit dem ich mich in der Zwischenzeit angefreundet habe - hat sie mehr zu Gesicht bekommen. Also haben Cheri und ich den Widerstand gegründet, der aus den Bediensteten des Schlosses und den Waisenkindern bestand. Unter ihnen befanden sich einige Elementgeborene, und andere, die sich mit Stahl verteidigen konnten, trotz ihres jungen Alters - sie haben sich gegenseitig ausgebildet, sich trainiert. Und während all der Zeit, in der Snow gelitten hat, und Lucien so tun musste, als sei alles in Ordnung, konnte ich nichts tun, als geschockt herumzusitzen. Cheri hat sich um alles gekümmert, bald darauf ist Lucien beigetreten, und kurz darauf auch Linus, der uns schlussendlich hintergangen hat... Aber das ist egal. Ich konnte nur rumsitzen und in die Leere starren. Zu der Zeit hat sich auch meine... Gabe... entwickelt. Ich konnte Snow nicht helfen, ich konnte Lucien keinen Beistand leisten. Ich konnte niemandem von beiden helfen - und das, obwohl die beiden so viel für mich getan haben." Mittlerweile laufen mir Tränen über die Wangen, aber ich ignoriere sie, ebenso wie ich Hugos Anwesenheit nur noch am Rande registriere. Er hat mich überraschenderweise noch kein einziges Mal unterbrochen.

"Dann ist Snow befreit worden, und auch dazu konnte ich nichts beitragen. Anschließend wurde Ice, Snows Bruder, hingerichtet - und auch da war ich nicht anwesend, konnte ihr keinen Halt bieten, nichts für sie tun. Sie und Lucien haben sich zerstritten, unsere Widerstandstruppe wurde aufgespürt, gefangen genommen, in unterschiedliche Enden des Verlieses geworfen, wo uns Lucien anschließend herausgeholt hat, ehe Snow das solische Schloss zum Einsturz gebracht hat... Und auch zu der Zeit stand ich unter Schock und konnte nichts beitragen. Dann sind wir auf ein Schiff und nach Luna gereist, ohne eine Ahnung was zwischen Lucien und Snow vorgefallen ist, denn Ersterer ist spurlos verschwunden und Letztere hat ihre Stimme verloren." Wieder schüttele ich den Kopf und schnaube leise.

 "Und auch da wusste ich nicht was ich tun sollte, war wie ein kleines, verlorenes Kind. In Luna haben du und deine Wolfseinheit uns aufgelauert, und auch da musste Snow mich retten. In der darauffolgenden Schlacht bin ich blindlings drauflosgestürmt - und schon wieder hat Snow mich gerettet, ihr Leben für mich riskiert. Und schon wieder stand ich unter Schock und konnte nichts tun, um es ihr zu vergelten." Ich schlinge die Arme um meinen mittlerweile zitternden Körper. "In der Schlacht gegen die Uman habe ich mich hilflos und verzweifelt an Snow geklammert - und war ihr wieder keine Hilfe. Lucien hat sie gerettet. Und dann hat Snow die Kontrolle verloren, und ist zusammengebrochen...", leise schluchze ich.

"Sie hat trotz ihres Zustands eine Hand gehoben - hat mich sogar da noch schützen wollen, mich warnen wollen. Nur Lucien habe ich es zu verdanken, dass ich bei der Explosion nicht gestorben bin, und Snow ebenso - er hat uns beide mit Schilden geschützt. Und jetzt... Jetzt sitze ich schon wieder ohne Aufgabe herum, kann nichts beitragen, Snow nicht helfen. Ich ertrage es nicht, diesen Schmerz in Luciens Augen zu sehen, nach allem, was er für mich getan hat. Ich ertrage es nicht, Snow in ihrem Zustand zu sehen, nachdem sie mich so oft gerettet hat. Ich kann nicht länger herumsitzen. Ich muss etwas tun - muss ihrer beide Güte endlich zurückzahlen", flüstere ich mit heiserer Stimme in den stillen Raum hinein. "Verstehst du? Deswegen muss ich in die Stadt und zumindest diese eine Aufgabe bewerkstelligen. Ich habe alles vermasselt, war nirgends eine Hilfe - also lass mich bitte zumindest das hier tun", beende ich meine Erklärung und kann nicht verhindern, dass meine Beine unter mir wegknicken.

Ich fühle mich so schwach. Meine Kehle ist rau und trocken, nachdem ich so lange geredet habe. Mir ist eiskalt, nachdem ich so lange herumgestanden habe, und mein Gesicht ist tränennass, weil ich mich während all der Worte nicht von der Stelle rühren konnte, nicht einmal, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen.

Bevor ich allerdings auf dem harten Boden aufschlagen kann, fangen mich warme, starke Arme auf und drücken mich an eine nur allzu bekannte Brust. Und diese liebevolle Geste, nach allem, was ich ihm an den Kopf geworfen habe - nicht nur heute, sondern auch in den letzten Tagen, weil ich zu verschreckt und verbittert war, schon wieder nichts für Snow tun zu können - diese kleine Geste reicht aus, damit sich bei mir alle Schleusen öffnen und ich hemmungslos an Hugos Brust weine, der mir beruhigend durch die Haare streicht, und mich einfach nur festhält.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt