Sechzig

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Linus

„Wie geht es dir?", fragt Lia sofort bestürzt, nachdem man uns in eine Zelle geworfen hat.

Ich schneide eine Grimasse. „Es tut weh", antworte ich wahrheitsgemäß, „Aber ich werde schon irgendwie zurecht kommen."

„Lass mich sehen", fordert sie und bedeutet mir so über den Boden zu rutschen, dass sie meinen Rücken sehen kann.

Kurz zögere ich – ich will ihr keine unnötigen Sorgen bereiten – aber dann tue ich was sie sagt. Solche Gedanken sind gerade unangebracht – es ist wichtig dass wir wissen, in welchem Zustand wir uns gegenseitig befinden, wenn wir eine Möglichkeit finden wollen, um zu fliehen. Mein Stolz bringt gerade niemandem etwas.

Lia keucht erschrocken auf.

„Was?", frage ich alarmiert nach. „Wie sieht es aus?"

„Es... Es ist ein Schnitt. Nicht lebensbedrohlich tief, aber trotzdem... tief. Du blutest", fügt sie flüsternd hinzu, „Und... das schimmert grünlich – Gift. Das muss schleunigst behandelt werden, bevor sich die Wunde entzündet...", murmelt sie mit demonstrativem Blick auf die unhygienischen Zustände unserer Zelle. In einer Ecke liegt Erbrochenes, in einer anderen stinkt es nach Urin und Exkrementen. Kaum mehr als einen halben Meter von uns entfernt.

Na wundervoll.

„Wer seid ihr?", fragt das blinde Mädchen nach und kneift die Augen zusammen. Sie hockt in einer anderen Zelle, unserer gegenüber - in der Kammer, in der auch der Rest ihres Trupps herumliegt. „Eure Stimmen kommen mir bekannt vor."

„Äh – oh stimmt ja, die Sache mit der Blindheit", murmelt Lia. „Wir sind gemeinsam aus Sol geflohen", erklärt sie.

Erkennen blitzt in den Augen des Kindes auf. „Ich erinnere mich", meint sie dann. "Es tut mir leid, dass wir euch zurücklassen mussten. Das Boot war alles, was wir für euch tun konnten. Ich hoffe, ihr seid uns nicht böse."

Ich schnaube verächtlich, aber Lia wirft mir einen strengen Blick zu. "Schon in Ordnung, ich habe euch ja selbst gesagt, dass ihr weg müsst", beschwichtigt sie das Rothaar. Dann richtet sie sich höher auf. "Hast du irgendwelche Informationen? Irgendetwas, das wir wissen sollten? Und wie genau seid ihr hier gelandet - wenn ihr doch auf dem Weg in Richtung Luna wart?"

Das Kind lehnt seufzend den Kopf an die Wand hinter sich und atmet geräuschvoll aus. "Die Uman haben uns verfolgt - sowohl die aus Sol als auch die von dieser Insel. Die Uman und diese anderen Dinger... diese geschuppten Wesen. Zumindest wurde mir gesagt, dass sie geschuppt wären - anders als die Uman. Sie haben uns auf offener See eingekesselt und wir haben um unser Leben gekämpft." Sie schaudert.

"Einige von uns konnten fliehen - wir hatten noch mehr von diesen kleinen Booten an Bord, wie das, das wir für euch zurückgelassen haben. Einige von uns sind im Kampf gestorben, andere haben sich lieber das Leben genommen als verschleppt zu werden, nachdem wir verloren haben. Der Rest von uns ist hier gelandet - und jetzt werden wir einer nach dem anderen zu Tode gefoltert von diesem Miststück." Ihre Augen lodern vor Zorn.

Lia legt fragend den Kopf schief und sieht dabei aus wie ein Raubvogel. "Was kannst du uns über sie sagen?"

Rothaar lacht verächtlich. "Sie ist die älteste Tochter des Königs, ihr Name ist Iane. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern hat sie sich für die finstere Seite der Macht entschieden und küsst nun die Stiefel ihres Vaters - auch wenn sie es sich selbst schönredet und denkt, sie hätte eine eigene reale Macht. Das einzige was sie antreibt sind ihr Minderwertigkeitskomplex und ihre Einsamkeit - oh, und ihr unbändiger Sadismus."

Ich meine mich grob daran zu erinnern, dass es tatsächlich eine Prinzessin namens Iane in Snows Familie gibt - oder genauer gesagt Lilliane. Sie ist älter als Snow, und war immer neidisch auf ihre Schwester und deren Zwillingsbruder Ice. Nur Annrhia - der jüngsten Prinzessin - gegenüber scheint sie früher ein gewisses Maß an Freundlichkeit und Liebe entgegen gebracht zu haben.

Tja, wenn man nun bedenkt, dass Iane einen ungeheuren Spaß daran zu haben scheint, Kinder zu foltern, ist diese ehemalige Liebe wohl zu Hass umgeschlagen. Stellt sie sich vielleicht sogar jedes Mal vor, ihre jüngste Schwester würde vor ihr liegen? Ich schaudere allein bei dem Gedanken daran.

"Wie kommt es, dass du als Einzige noch...", ich mache eine vage Handbewegung, unfähig die richtigen Worte zu finden, werde mir dann jedoch wieder ihrer Blindheit bewusst, "bei Bewusstsein bist? Kampfgeist hast?"

Sie grinst. "Sie will mich als Druckmittel nutzen - eine von Snows engsten Vertrauten ist meine Mutter. Daher hat diese Schlampe wohl oder übel keine andere Wahl, als mich am Leben zu lassen, und ernsthaften Schaden darf sie mir auf Befehl des Königs hin auch nicht zufügen." Ihr Grinsen gerät ins Wanken, wird eher zu einem Zähneblecken. "Aus genau diesem Grund dezimiert sie mit jedem verstreichenden Tag meinen Trupp mehr. In der Hoffnung, meinen Geist zu brechen." Rothaar zuckt mit den Achseln. "Eine gebrochene Geisel ist leichter zu handhaben als eine Widerspenstige."

Lia und ich wechseln einen verdutzten Blick. Rothaar hat familiäre Kontakte in Snows Armee? Das ist eine nützliche Information - es erklärt, warum sie Snow so unbedingt helfen will.

"Danke für deine Hilfe", meint Lia schließlich, "Wir wissen die Informationen zu schätzen. Sollten wir einen Fluchtweg finden, werden wir dich definitiv mitnehmen."

Rothaar schnaubt. "Danke für eure Güte", antwortet sie spöttisch und schließt die Augen. "Wenn ihr dann also so freundlich sein könntet - ich habe einige anstrengende Stunden hinter mir und würde mich ganz gerne ausruhen, ehe die nächste Runde losgeht."

"Die nächste Runde?", hake ich stirnrunzelnd nach.

Wieder schnaubt Rothaar. "Ihr denkt noch nicht wirklich, dass Iane uns in Ruhe lassen wird? Nein, sie wird uns immer wieder von den Uman hin und her schleppen lassen, und mit jedem Mal wird sie uns mehr drohen, mehr Schmerzen zufügen. In diesem Sinne - Gute Nacht."

Ich rutsche näher an Lia heran, damit wir uns leise flüsternd unterhalten können, ohne belauscht werden zu können oder irgendjemanden - wie Rothaar beispielsweise - zu stören. "Glaubst du die Beiden werden uns hier raus holen?", frage ich mit gesenkter Stimme. Ich erwähne absichtlich nicht die Namen von Rose und Tray, immerhin sollten wir kein Risiko eingehen, auch wenn wir noch so leise sprechen.

Lia atmet tief durch. "Gute Frage. Keiner von uns hat seinen Teil des Handels bisher umsetzen können - die Kinder sind immer noch eingesperrt, und Iane lebt auch noch." Sie zögert.

"Aber?", hake ich seufzend nach.

"Aber sie haben uns immerhin schon einmal zu helfen versucht - gewissermaßen könnte man das so auslegen, dass sie ihren Teil erledigt hätten. Wir hatten abgemacht, dass sie uns helfen die Kinder rauszuholen - nicht, dass sie sicherstellen, dass die Kinder draußen sind", erklärt sie.

Leise fluche ich. "Wieso muss es in solchen Verträgen immer solche Wortklaubereien geben?"

Lia schmunzelt leicht über meinen Wutausbruch und sieht mich mitfühlend an. "Wir können nur hoffen, dass die beiden nicht genug über solche Verträge wissen, als dass sie die Worte herumdrehen", zuckt sie mit den Achseln. "Jetzt heißt es abwarten und Kirschen essen - nur ohne Kirschen, und ohne Essen." Sie schneidet eine Grimasse, als ihr Magen knurrt.

Leise lache ich und lehne mich an Lia. "Wir schaffen das schon, egal in welcher Scheiße wir wie tief drin hocken. Gemeinsam", lächle ich.

"Gemeinsam", wiederholt Lia sanft.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt