Fünfunddreißig

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Linus

Eine Gruppe, so groß, dass ich kaum einschätzen kann, wie viele es sind - Erwachsene wie Kinder, Frauen wie Männer. Alle gefesselt und geknebelt. Einige starren mich neugierig an, andere werfen einander Blicke zu, wieder andere schlafen. Ihre Kleidung ist zerschlissen und abgewetzt, ihre Körper sind dunkel vor Schmutz, Staub und... Asche?

Verdammt, wie lange sind diese Menschen nun schon hier eingesperrt? Was haben die Piraten mit ihnen vor, und wichtiger - hätten sie dasselbe mit Lia und mir vorgehabt?

"Bist du also dahinter gekommen, Kleiner", schnalzt jemand hinter mir mit der Zunge. "Wusst ichs doch, ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass was mit dir nicht stimmt!"

Als ich herumwirbele, sehe ich zwei der Piraten hinter mir, einer mit einem breiten Schwert bewaffnet, der andere mit zwei Dolchen.

"Was machen wir jetzt mit ihm?", fragt der eine den anderen. "Er könnte sicherlich ein hübsches Sümmchen einbringen, wenn wir ihn wie die anderen auf den Sklavenmarkt schaffen würden - besonders nun, da Ware knapp ist."

Der andere schüttelt den Kopf. "Wir haben Befehl, jeden zu töten, der Fuß hier rein setzt. Der Boss sollte mit der Kleinen auch bald fertig sein - dann sollten wir den hier längst besiegt haben, sonst wirds peinlich."

Während sie mir langsam näher kommen, weiche ich weiter zu den Gefangenen zurück. Meine Gedanken rasen. Soweit ich ihren Worten entnehmen konnte, haben sie unser Schauspiel längst enttarnt, sind uns gefolgt und haben bloß darauf gewartet, dass wir uns aufteilen und leichter zu erledigen sind. Verflucht! Hoffentlich geht es Lia gut. Wobei - wenn sie einen Uman töten kann, dann sollte sie auch mit einigen Piraten fertig werden.

Aber was soll ich jetzt tun?

Nervös halte ich den Dolch, den Lia mir gegeben hat, vor mich. Natürlich weiß ich grob und theoretisch, wie man dieses Ding einsetzt, um zu töten - aber ich habe in der Hinsicht keinerlei Praxiserfahrung. Wie stellt man sich hin, wie soll man sein Gewicht verlagern, wie soll man die Waffe führen? Wenigstens wo ich zustechen muss ist für mich selbsterklärend.

Soll ich einen Kampf riskieren? Nein, ich hätte schon mit einem Probleme - und die hier sind zu zweit. Gegen einen käme ich mit viel Glück noch an, aber gegen beide habe ich keine Chance.

Dann doch lieber Zeit gewinnen? Sicher, wenn ich die beiden ablenken würde, bis Lia käme, dann wären unsere Siegeschancen höher. Zwei gegen zwei klingt recht realistisch. Dennoch sträubt sich etwas in meinem Inneren gegen diesen Gedanken - mein Stolz. Aber kann ich es mir wirklich leisten, mich an meinen Stolz zu klammern, wenn ich jeden Moment sterben könnte?

Innerlich fluche ich. "Befindet euer Anführer euch für so schwach, dass ihr zu zweit geschickt wurdet, um mich zu töten?", versuche ich Zeit zu gewinnen und lecke mir nervös über die Lippen.

Die beiden bleiben tatsächlich stehen und sehen sich für einen Moment gegenseitig an. "Große Töne für jemanden, den jeden Moment das Zeitliche segnen wird", erwidert einer der beiden mit blitzenden Zähnen. "Keine Sorge, wir würden auch alleine mit dir fertig werden, aber da wir unsere Ware nicht anfassen dürfen, ist uns in dieser Ruine ziemlich langweilig."

"Was hättet ihr denn davon, mich zu töten? Wäre es nicht viel klüger, mich zu verkaufen?", lenke ich ab.

"Zu schade. Ich hatte vor, es schnell zu machen, aber es scheint auf mich so, als hättest du dich gerade freiwillig bereit erklärt, uns ein wenig mehr Spaß zu bereiten", grinst der andere. "Vielleicht sollten wir dich lieber langsam auseinander nehmen. Deine Einzelteile könnten uns auf dem Schwarzmarkt mehr einbringen als dein hübsches Gesicht auf dem Sklavenmarkt."

Oh, verdammt. Das läuft ganz und gar nicht gut. Die beiden sind nur noch drei Meter von mir entfernt. Als ich weiter zurückweiche stolpere ich über meine Füße und lande auf dem Hintern, direkt neben einem Mädchen, das in die Leere starrt. Trotz des Schmutzes kann ich auf ihrem Körper die vielen Narben und knapp verheilten Wunden erkennen und mir wird schlecht. Ist es das, was mir nun blüht, da ich die Piraten aufgestachelt habe?

Auf wessen Seite stehst du?, erklingt eine weibliche, kindliche Stimme in meinem Kopf. Verwirrt blicke ich mich um, die Gefangenen sind geknebelt, sie können nicht geredet haben, aber die Piraten können es auch nicht gewesen sein und--

Für wen arbeitest du? Was ist dein Ziel?

Verflucht, ich will doch nur in Ruhe leben! Weit, weit weg von dem ganzen Krieg und Drama!

Dann lass uns einen Handel abschließen. Du hilfst uns bei unserer Mission, und wir retten dir dein Leben.

Schmerzerfüllt schreie ich auf, als einer der Piraten mich am Haarschopf packt und mich wieder auf die Beine reißt. "Ja, ist gut, ist gut! Abgemacht!", zische ich, Tränen treten mir vor Schmerz in die Augen.

Bevor ich auch nur einen Atemzug tun kann, ist urplötzlich alles weg. Als ich die Augen öffne, sehe ich neben mir ein Aschehäufchen, das umgeben von Flammen fröhlich knistert.

Bei dem Gestank von verbranntem Fleisch wird mir kotzübel. Als ich mich umdrehe, erkenne ich, dass die ganzen Gefangenen gar nicht so gefangen sind wie gedacht.

Viele von ihnen stehen auf und schütteln die Fesseln einfach ab, als hätten sie sie schon längst gelöst, und nehmen sich selbst die Knebel ab. Sie lösen die Fesseln derjenigen, die noch gefangen sind, und helfen einander auf.

Das Mädchen von vorhin - sie ist blind, wie ich jetzt begreife - steht auf und reicht mir grinsend eine Hand. "Wir haben dich gerettet. Jetzt ist dein Anteil dran", strahlt sie und ich starre sie mit großen Augen an, während ich ihre Hand schüttele. Ihre Stimme ist es gewesen, die ich in meinem Kopf gehört habe!

Ein lautes Keuchen erklingt hinter mir, und als ich mich umdrehe, sehe ich Lia - blutverschmiert und vollkommen außer Atem. "Wer ist das?", verlangt sie harsch zu wissen und deutet mit dem Kinn auf das Mädchen vor mir.

"Sie hat mich gerettet", erwidere ich knapp angebunden. Ich bin überglücklich, dass es Lia gut geht - aber ihre unterkühlte, bissige Art gerade dämpft meine Wiedersehensfreude.

"Schön." Lia stützt die Hände auf die Knie und atmet tief durch. Als sie wieder aufrecht steht, erkenne ich hinter ihrer harten Fassade so etwas wie Panik.

"Wenn ihr uns kurz entschuldigen würdet", wende ich mich an das Mädchen und ihre Gruppe, ehe ich Lia beiseite nehme und wir uns ein ganzes Stück von der Gruppe entfernen, um nicht belauscht werden zu können. "Was ist los? Alles in Ordnung?", frage ich nach.

"Ja, alles in bester Ordnung", zischt Lia und kehrt mir den Rücken zu, während sie das Wasser in der Nähe nutzt, um ihr Gesicht und ihre Hände zu waschen. "Abgesehen davon, dass ich von einem halben Dutzend Piraten überfallen worden bin, die lautstark gehöhnt haben, wie viel Freude es ihnen bereiten würde, mir deine Leiche zu zeigen, und dich vor meinen Augen in deine Einzelteile zu zerlegen. Und mir erst da der Gedanke kam, dass du vielleicht zu wenig über den Kampf weißt, als dass du dich in einem echten Gefecht tatsächlich mit einem blöden Dolch verteidigen könntest."

"Moment, heißt das, du bist so schlecht gelaunt, weil du dir Sorgen um mich gemacht hast?", hake ich mit einem kleinen Lächeln nach.

"Wenn du es so formulieren willst, dann ja!", faucht sie und wirbelt zu mir herum, wobei einige Tropfen des Wassers durch ihre schnelle Bewegung eindrucksvoll hochspritzen. "Ich habe es satt, dass die Menschen in meiner Nähe andauernd beinahe krepieren, nur weil ich es nicht hinbekomme, sie zu schützen!" Ein Schluchzen lässt ihre Schultern beben und erst jetzt fallen mir die glitzernden Tränen in ihren Augen auf. "Ich habe es satt, daran denken zu müssen, wie sie damals durch mein Versagen gestorben ist", fügt sie flüsternd hinzu.

Zwar verstehe ich nicht ganz, wovon Lia da redet, aber es ist eindeutig, dass es ihr nahe geht. Mein Lächeln ist wie weggewischt. Verwirrt davon, wie ich nun reagieren soll - so hat sich Lia mir gegenüber noch nie verhalten -, umarme ich sie einfach. "Ich werde nicht sterben", verspreche ich ihr leise. "Wir werden zusammen herausfinden, wie man in Frieden lebt."

Schluchzend klammert sie sich an mein Oberteil und beginnt an meiner Brust hemmungslos zu weinen.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt