Neunzehn

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Lucien

Ich finde Fire schlussendlich auf dem Balkon eines unbewohnten Zimmers. Sie hat sich auf die Brüstung gesetzt und lässt die Beine in der Luft baumeln, während sie stumm den goldenen Sonnenaufgang betrachtet, der durch den reflektierenden, weißen Schnee noch eindrucksvoller aussieht. Trotz der beißenden Kälte zuckt sie kein einziges Mal zusammen, wenn der Wind ihr durch die Kleidung fährt. Sie hat sich zwischendurch offenbar genug besonnen, um sich ihres eigenen Zustands bewusst zu werden, denn sie hat sich das Blut abgewaschen und ihre Kleidung gewechselt.

Wortlos lege ich ihr einen pelzgefütterten Mantel um die Schultern, den ich im Zimmer gefunden habe, und lehne mich neben ihr an die Brüstung, den Blick auf den bezaubernden Sonnenaufgang gerichtet. Die Müdigkeit zerrt an mir, aber ich kann mich nicht ausruhen, ehe ich nicht diese Angelegenheit aus der Welt geschaffen habe.

"Die Behandlung, die Ann Snow zuteilwerden lässt - sie ist äußerst gefährlich. Ann reist durch Snows Erinnerungen, durch ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Bedenken. Sie analysiert die Dinge, die Snow zu schaffen machen, und versucht auf diese Weise den gemeinsamen Nenner all dessen zu finden, um tiefer in ihre Seele vordringen zu können - dorthin, wo Snow eingesperrt ist, unfähig in die Realität zurückzukehren", erklärt Fire heiser aus dem Nichts.

"Dadurch riskiert Ann, ihre eigenen Erinnerungen Stück für Stück zu verlieren und aufzugeben. Die ersten Folgen zeigen sich bereits jetzt - es fällt ihr schwer sich zu konzentrieren, sie wird vergesslich, schwach und träge." Sie stockt für einen Moment und schluckt schwer.

"Sie hat mir nichts von den Nebenwirkungen erzählt, oder wie gravierend sie Ann betreffen könnten. Sie hat mir die Folgen verschwiegen. Und was das Schlimmste daran ist: Es hätte verhindert werden können. Wenn wir früher herausgefunden hätten, dass du Kontakt zu den Tiefen deiner Seele aufnehmen kannst - wenn du uns zugehört hättest, damit wir dir alles hätten erklären können, wenn du kooperiert hättest und nicht zugelassen hättest, dass Snows Zusammenbruch dich derart aus der Bahn wirft - dann hättest du dich von vornherein um sie kümmern können. Du hättest ihr selbst helfen können, ihr beistehen können, sie aus ihrem Käfig befreien können - wenn du nur zugelassen hättest, dass wir dir alles erklären und beibringen." Sie schüttelt den Kopf. "Für dich hätte es keine Nebenwirkungen gegeben. Für dich wären keine Verluste oder Nachteile dadurch entstanden."

"Es ist immer noch nicht zu spät. Das sollte ich dir von Ann ausrichten, wenn du dich mir gegenüber öffnest", entgegne ich ruhig und leise, in der Hoffnung, dass es dieser Zusammenhang war, in dem ich Anns Worte überbringen sollte.

Fires Kopf schnellt zu mir herüber. Ihre Augen glänzen. "Ist es noch nicht? Ich dachte, wenn der Prozess erst einmal in Gang gesetzt worden wäre...", sie verstummt und blickt mich mit großen Augen an. "Natürlich. Wenn Anns früheste Erinnerungen schwinden, dann müssen sie einfach nur reaktiviert werden - durch die einzige Person, die diese Erinnerungen teilt: Snow. Aber...", ein Schatten huscht über ihr Gesicht.

"Du... hast etwas gegen Snow, nicht wahr?", hake ich vorsichtig nach.

Fire wendet den Blick wieder der Sonne zu. "Nein - Ja - Nein - Ich meine... Es sind die vergangenen Ereignisse. Damals, im Schloss", stammelt sie. "Ich sage nicht, dass es ihre Wahl war, oder dass sie etwas dafür kann. Ich weiß, dass sie daran keine Schuld trifft. Es ist einfach so passiert. Aber trotzdem... Ich kann eine gewisse Wut auf sie nicht abschütteln. Sie hat schreckliches durchgemacht, das weiß ich, und das will ich auch gar nicht bestreiten", macht Fire sofort einen kleinen Rückzieher, "Aber sie ist nun einmal nicht die Einzige, die leiden musste. Während sie in den Kellern gefoltert wurde, wurdest du alleine dem Gerede des Volkes ausgesetzt. Man hat alle Verantwortung auf dich geworfen und dich sozusagen den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Das ist meiner Meinung nach mindestens genauso schlimm. Und ich... Währenddessen wurde ich...", ihre weit aufgerissenen Augen sind verschleiert, ihr Blick ist in die Vergangenheit gerichtet. "Er hat mich geschlagen", flüstert sie heiser und atmet schluchzend ein, "Er hat mich geschlagen und verspottet und er... er hat..."

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt