Achtundfünfzig

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Linus

Eine Stiefelspitze schlägt gegen meine Hüfte und stöhnend kehrt mein Bewusstsein aus der Dunkelheit zurück.

Meine Augen lassen sich schwer öffnen, sie fühlen sich seltsam verklebt an, und mein Schädel dröhnt als hätte jemand ihn mit einem Hammer bearbeitet.

Um mich herum herrscht eine eigenartige Atmosphäre – alles ist in Dunkelheit getaucht, und doch irgendwie nicht. Die Finsternis ist wie eine Art Nebel, aber nicht so dicht wie das Za'dou der Uman, denn diese Dunkelheit lässt den Schein einer Unzahl an Kerzen hindurch, die den Saal beleuchten.

Meine Hände sind hinter meinem Rücken gefesselt, mein Hintern ist taub, ich sitze auf dem Boden und meine Beine sind nutzlos vor mir ausgestreckt, eine Wand drückt in meinen Rücken und hält mich aufrecht.

„Du bist wach, Süßer. Gut", schnurrt einehonigsüße Stimme über mir und ich höre sich entfernende Schritte. "Wir wollen doch nicht, dass du noch etwas von dem Schauspiel verpasst."

Es handelt sich um eine junge Frau – eine wunderschöne und zeitgleich unfassbar hässliche Frau.

Die pechschwarzen Haare sind glatt und lang, das Licht der Kerzen schimmert auf ihnen, die Lippen voll und dunkelrot bemalt, ihr Körper ist dünn und dennoch wohlgenährt, gut bestückt, und verstärkt zum Ausdruck gebracht durch das hautenge, pechschwarze Kleid.

Aber es sind ihre Augen, die ihre ganze Schönheit zunichte machen. Hasserfüllte, verbitterte Augen, ein stechend blauer, grausamer Blick. Sie sind wie zwei Eiszapfen, aber nicht auf die frostige und interessante Weise, sondern auf die Ich-morde-gerne-Unschuldige-und-foltere-Kinder-
Weise.

Kinder. Das Stichwort erinnert mich an die Gruppe, die wir gesucht haben.

Erst jetzt werde ich mir der anderen Personen im Raum bewusst und ich keuche erschrocken auf.

Da liegen sie. Blutend, verschrammt, überzogen mit blauen Flecken, kleinen Schnitten und Blutergüssen. Reglos liegen sie da, zusammen gekrümmt vor Schmerzen, ihre Kleider nur noch nutzlose Fetzen.

Nur ein einziges der Kinder sitzt noch– das Mädchen mit den feuerroten Haaren. Das blinde Mädchen. Obwohl sie nichts sehen kann, brennt in ihren Augen purer Hass, und ihre Hände sind mit dunkelblauen Ketten aneinandergebunden, die ich schon einmal irgendwo gesehen habe. Auch sie sieht fix und fertig aus, aber sie scheint zumindest noch bei Bewusstsein zu sein und Kampfgeist zu besitzen.

Ein Grunzen erregt meine Aufmerksamkeit, und mein Herz erzittert.

Lia.

Sie liegt am Boden, genauso gefesselt wie ich. Ihr Körper weist glücklicherweise nur einige Schrammen und Schürfwunden auf, aber keine Verletzungen wie bei den Kindern.

Die schöne und dennoch hässliche Frau – vermutlich die finstere Prinzessin, von der Rose und Tray gefaselt haben – grinst höhnisch auf Lia hinab und tritt noch einmal nach ihr, als sie versucht sich wieder aufzusetzen.

Mit einem leisen „Uff" bricht Lia wieder zusammen, doch als die dunkle Lady ihr dann auch noch überflüssigerweise auf die Finger tritt, schreit Lia leise auf, woraufhin die Frau zufrieden von ihr ablässt - vorerst.

Lia derart am Boden zu sehen – wortwörtlich – entfacht eine unbändige Wut in mir und appelliert an meinen Beschützerinstinkt. Ich will am liebsten zu ihr rennen und dieser dunklen Prinzessin eine reinhauen, aber ich bin zu gut gefesselt – egal wie sehr ich mich dagegen wehre, sie lassen nicht locker.

„So so", schnurrt die finstere Lady. „Ihr seid also die Beiden, die es gewagt haben, in mein Heim einzudringen. Hoffentlich seid ihr interessanter als diese Bälger, die sofort schlapp gemacht haben – und dabei habe ich noch gar nicht richtig angefangen mit ihnen", schmollt sie. "Kinder sind ja so zerbrechliche Wesen."

Schlampe!", zischt das blinde Mädchen und reißt an ihren Ketten. Ihre Arme sind schon ganz zerkratzt – vermutlich hat sie schon öfter gewaltvoll versucht, die Ketten loszuwerden.

Sofort richtet sich die finstere Prinzessin auf und blickt zu ihr. Sie tritt noch einmal nach Lia, die es aufgegeben hat den Versuch zu wagen, aufzustehen, und schlendert gelassen zu dem blinden Mädchen. Vor ihr geht sie in die Hocke und verzieht den Mund.

Schneller als ich es kommen sehe, packt die Frau das Mädchen plötzlich an den Haaren und zerrt ihren Kopf nach hinten, woraufhin das blinde Kind leise aufschreit, in ihren Augen glitzern Tränen. Mit einem langen Fingernagel streicht die finstere Prinzessin langsam über die Wange des Mädchens und ihrirres Grinsen kehrt zurück.

„Ich an deiner Stelle würde aufpassen, was ich sage, Kind. Du magst blind sein, aber das ist noch lange nicht das Schlimmste, das deinen Augen widerfahren kann. Du magst gefoltert worden sein bis du beinahe die Besinnung verloren hast, doch das ist nichts gegen die Dinge, die ich mit dir anstellen kann. Mein Vater war in dieser Hinsicht schon immer zu nachsichtig", spitzt sie die Lippen.

Das Mädchen zittert – aber nicht vor Angst, sondern vor Wut. Der Hass in ihren Augen brennt lichterloh, obwohl ihr Blick ohne festes Ziel umherirrt.

„So schöne Augen", höhnt die Prinzessin, als hätte sie den selben Gedanken gehabt. „Deine Mama war sicher immer ganz stolz darauf und hat dich dafür mit Komplimenten überschüttet", spottet sie. "Wie viel Spaß es wohl machen würde sie dir auszubrennen?", legt sie den Kopf schief. „Am besten noch mit Feuer – diesen Flammen, die du doch so gern hast."

Lia regt sich zitternd. „Aufhören", flüstert sie, zuerst leise, dann wiederholt sie es lauter. Sie liegt auf der Seite und starrt die dunkle Lady hasserfüllt an. „Seid Ihr euch zu feige, es mit jemanden Eures Alters aufzunehmen? Seid Ihr so schwach?", schnaubt sie. „Habt Ihr so wenig Macht, dass Ihr Fesseln und Ketten benötigt?"

Angespannt halte ich den Atem an. Lia bewegt sich auf ganz dünnem Eis – aber vielleicht ist genau das ihre Absicht. Die Prinzessin von dem Kind wegzulocken und stattdessen auf sich aufmerksam zu machen.

Das Gesicht der Prinzessin ist ausdruckslos, wie erstarrt.

Plötzlich fährt ein scharfer Schmerz durch meinen Rücken und ich kann nicht anders – ich schreie auf. Lias Blick fliegt zu mir und ihr Gesicht wird ein wenig blasser. In ihren Augen steht Panik. Etwas Warmes läuft über meinen Rücken, und der Schmerz breitet sich wellenartig aus, während ich keuchend darauf warte, dass er nachlässt. Die Stelle an meinem Rücken fühlt sich irgendwie heiß und brennend an – und ich realisiere, dass ich an gar keiner Wand lehne. Da ist etwas anderes Massives hinter mir und hat mich verletzt.

„Große Töne für jemanden, der sich in deiner Position befindet", höhnt die finstere Lady. „Sei froh, dass es diesmal bei nur einem Hieb blieb. Noch so eine freche Aussage, und ich lasse ihm die Zunge herauszuschneiden - auch wenn das eine Schande wäre, denn seine Schreie sind reinste Musik in meinen Ohren." Ihre Augen funkeln vor Wahnsinn.

Nun dürfte auch das blinde Mädchen realisiert haben, dass mehr Personen anwesend sind als sie dachte.

Eine Tür fliegt auf, ein geschupptes Untier erscheint, ein Kreischen ertönt – und die finstere Lady schnalzt mit der Zunge. „Ich bin gleich da", antwortet sie pikiert und scheucht das Monster mit einem Handwink fort. Auf dem Weg zu der Tür, hinter der das Wesen verschwunden ist, hält sie noch einmal vor Lia an und blickt auf sie hinab. „Jeder Fehltritt von dir wird eine Strafe an deinem Freund nach sich ziehen – und umgekehrt genauso", fliegt ihr eiskalter Blick zu mir. „Und jeder Fehler von dir, Kleine, wird den Tod eines deiner Kameraden nach sich ziehen",wendet sie sich an das blinde Kind. Dann grinst sie wieder. „Benehmt Euch in meiner Abwesenheit – wir sehen uns später wieder", flötet sie und lächelt süßlich in meine Richtung.

Verwirrt runzle ich die Stirn, dann höre ich das Flügelschlagen und das Kreischen – Uman.

Sie packen uns an den Ketten, mit denen wir gefesselt sind, und heben uns in die Luft hoch, ehe sie uns durch eine andere Tür in die Flure hinaustragen, wobei sie die Dunkelheit wieder undurchdringlich machen, damit wir keinen Orientierungssinn entwickeln können.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt