Zweiundsiebzig

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Lucien

"Lucien!" Fires Stimme reißt mich aus den Gedanken.

Verdammt. Ich bin mitten in einem wichtigen Meeting - und doch kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, was in der letzten Nacht geschehen ist. Sofort spüre ich, wie mein Blut wieder in Wallung gerät. Ich balle die Hände zu Fäusten.

Verdammt. Es geht gerade darum, wie wir am besten nach Sol gelangen können, ohne frühzeitig vom König entdeckt zu werden, und wie wir an potenziellen Luftwachen vorbei schleichen könnten - und nicht darum, wie wunderschön und heiß die letzte Nacht mit Snow war.

Ich atme tief durch. "Ja?", frage ich nach und hebe den Blick.

Auf ihrem Gesicht steht ein breites, wissendes Grinsen. "Könntest du bitte wiederholen, was ich gerade gesagt habe?"

Innerlich fluche ich. Sie weiß ganz genau, dass ich nicht zugehört habe - und vermutlich ahnt sie auch, wohin meine Gedanken abgedriftet sind. Verdammt.

Die Stille zieht sich endlos dahin und mit jeder Sekunde wünsche ich mir mehr, ich könnte im Erdboden versinken. Die anderen blicken betont in unterschiedliche Richtungen, aber auch in ihren Gesichtern kann ich das Amüsement erkennen.

Glücklicherweise rettet mich ein Mädchen aus Fires Schattenorganisation aus der Situation. Eilig schlüpft sie in das Zelt und kommentiert die betretene Stille nur mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem Schmunzeln. Sie wendet sich Fire zu und überreicht ihr einen zusammengefalteten Zettel, ehe sie mit blitzenden Augen und einem wissenden Grinsen in meine Richtung wieder nach draußen verschwindet.

"Was ist das?", deute ich mit dem Kinn in Richtung Zettel, froh, dass ich mich auf etwas anderes konzentrieren kann als auf meine peinlich abschweifenden Gedanken.

Fire runzelt die Stirn, als sie die Botschaft entfaltet, antwortet jedoch nicht. Dann werden ihre Augen ganz groß, und sie blickt mich erstaunt an. "Lasst uns bitte kurz alleine", wendet sie sich an die anderen, die teils misstrauisch, teils verwirrt aussehen. Aber sie alle leisten Folge ohne einen Aufstand anzuzetteln.

"Was ist das?", wiederhole ich meine Frage als wir alleine sind.

Sie blinzelt stumm - und im nächsten Moment zerfällt das Stück Papier nach einem kurzen Aufblitzen von Feuer zu Asche. "Du solltest dich vielleicht setzen", meint sie dann mit krächzender Stimme.

"Fire", ermahne ich sie. Ich will endlich wissen, was sie derart schockiert hat - und warum um Himmels willen sie die Botschaft für so gefährlich befindet, dass sie sie rösten musste.

"Ich... Es...", stottert sie. Dann räuspert sie sich und atmet geräuschvoll durch. "Zu Händen des feurigen Blizzards und seiner Elemente: Der Phönix ist auferstanden, die Festung der Asche eingenommen", zitiert sie mit belegter Stimme und verschleierten Augen. "Der Riese ist in sein Heim zurückgekehrt, mitsamt seiner Heerschar. Und...", ihre Stimme bricht, "die Hoffnung erblüht, die gesamten Gezeiten greifen um sich und entbieten wilde Grüße."

Irritiert runzle ich die Stirn. Wirklich eine kryptische Formulierung - vermutlich damit nur der bestimmte Empfänger die Nachricht entschlüsseln kann. "Zu Händen des feurigen Blizzards...", wiederhole ich leise. Der Brief ist an mich und Snow gerichtet.

Ein Phönix... Überrascht weiten sich meine Augen. Zu Beginn unseres Widerstands in Sol hatten wir über eine Flagge, irgendein Logo, diskutiert. Wir hatten den Phönix gewählt - den Feuervogel, der in einem unendlichen Kreis aus Tod und Wiedergeburt gefangen war. Aber unser Widerstand wurde durch den Tod von Ice und die daraus resultierende Katastrophe weithin zerschlagen. Alle mussten überstürzt aus Sol fliehen, niemand war mehr sicher.

Und wenn dieser Phönix nun wieder auferstanden ist... Dann bedeutet das, dass der zerschlagene Teil unseres Widerstands wieder vereint ist, bereit für Snow zu kämpfen.

"Eine Festung der Asche?", wende ich mich fragend an Fire.

In ihren Augen flackert etwas. "Ann wird es verstehen, und sie wird es Snow erzählen können. Das geht vorerst nur die beiden etwas an. Ob deine Geliebte es dir später erzählt oder nicht, ist ihre Sache."

Okay - und wenn Snow nicht mir darüber reden wollen würde, wäre das auch vollkommen in Ordnung. Ich würde sie nicht zwingen, über Dinge zu reden, die sie nicht ansprechen will. Solange sie mir sagen würde, ob es eine positive oder negative Neuigkeit ist, würde ich schon klarkommen.

Im Kopf ging ich noch einmal die Botschaft durch. Ein Riese, der in sein Heim zurückgekehrt ist...

Der König von Luna - Snows und Anns Vater. Er hat sich zu einer Art gigantischem Problem entwickelt, zu einer monströsen Bedrohung. Er ist in Sol eingefallen und hat das Land an sich gerissen, nachdem er meinen Vater getötet hat - und wenn er nun zurückgekehrt ist...

Mein Körper bebt vor Adrenalin. Dann eröffnet uns das ganz neue Möglichkeiten. Wir müssten gar nicht über das Meer reisen, wenn der König tatsächlich wieder in seinem Palast in Luna ist. Sol wäre nicht mehr in unmittelbarer Gefahr - nicht mehr belagert. Immerhin hieß es, der König hätte seine Uman, und was er sonst noch gezüchtet hat, mit sich genommen.

Die Hoffnung erblüht, die gesamten Gezeiten greifen um sich und entbieten wilde Grüße...

Hoffnung ist das, was uns alle antreibt. Die Hoffnung auf Freiheit war es, die Snow dazu gebracht hat, Freedom an jenem Tag damals zu retten - sie hat mir davon erzählt. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Snow ist es, die mich von Beginn an angetrieben hat. Und die Hoffnung auf eine bessere Welt ist es, die unsere gesamte Armee vorantreibt - und sie dazu bringt, Snow zu folgen.

Gezeiten - das Meer... Oder doch eher Wellen? Ebbe und Flut...

Eine Armee, die wie Ebbe und Flut wogt. Wir waren viele, dann kam die überhastete Flucht aus Sol wegen der wir wenige wurden... Dann begegnete Snow Hugo und seinem Trupp und wir wurden mehr, durch die darauf folgenden Gefechte wurden wir aber wieder weniger... Dann kamen Fire und Ann mit ihren Leuten hinzu, und in der Schlacht von Su'ul haben wir wieder viele verloren - so viele, dass es düster für uns aussieht...

Aber wenn nun die nächste Flut gekommen ist? Was, wenn das gemeint ist - Truppenverstärkung?

Wilde Grüße... Wilde... Schlachtrufe.

Mein Körper erzittert erneut und ich starre Fire mit großen Augen an. Ich habe das Gefühl mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen.

Fassungslos lasse ich mich nun doch auf einen Stuhl sinken und bedecke mein Gesicht, während ich die Neuigkeiten zu verdauen versuche. Zitternd atme ich aus.

"Sie alle?", hake ich leise nach. Meine Stimme versagt beinahe. Die gesamten Gezeiten...

Fire grinst wölfisch mit blitzenden Augen. "Sie alle", bestätigt sie und lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. Offenbar hat sie ihren Schock bereits überwunden, während ich noch eine Weile brauche.

Wenn alle...

So viele...

Ich springe wieder auf die Beine.

"Was hast du vor?", fragt Fire.

Bebend lege ich ihr eine Hand auf die Schulter. "Kümmere du dich bitte vorerst um die Besprechungen. Ich muss Snow suchen."

Ihr geschnurrtes: "Aber gerne doch", ist das letzte das ich höre, bevor ich hinausstürme.

Freezing FireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt