Teil 12

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Ich nahm auf meinem Schreibtischstuhl Platz und stützte meinen Kopf. Wie sollte ich ihr weh tun? Sie war der einzige Mensch, der mich liebte, der einzige, der mich zu schätzen wusste. Eine einzelne Träne lief über meine Wange und ich atmete tief durch. Es wird alles gut; vielleicht wird dieser Satz ja wahr, wenn man ihn nur oft genug sagt.
Du schaffst das. Monster. Ich schüttelte den Kopf. Monster.
Ein stechender Schmerz erfüllte meinen rechten Arm und ich rannte ins Bad. Dort ließ ich eiskaltes Wasser drüber laufen, was gut tat. Ich sah erneut in den Spiegel, so würde ich auf keinen Fall in der Schule erscheinen.
Ich entschloss mich dazu früh schlafen zu gehen, aber es war eine unruhige Nacht, denn meine Arme schmerzten und ich wachte deshalb andauernd auf. Schließlich war es sieben Uhr, als ich das Herumwälzen endlich aufgab.
Ich griff sofort nach meinen Tabletten und versuchte sie ohne Wasser zu schlucken, was aber nicht gut klappte, also ging ich in die Küche und versuchte dabei niemanden aufzuwecken. Danach setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb eine Liste: Schminke.
Ich musste über mich selbst lachen, weil ich mich nicht auskannte. Shampoo, Deo, Blöcke und Kaugummis. Ich hatte sowieso die Hälfte vergessen. Im Schneckentempo zog ich mich um und spielte dann eine App auf meinem Handy, wobei man Auto fahren musste. Ich war so in das Spiel vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging. Es klopfte an der Tür und ich blickte zur Uhr, es war neun.
"Ja?"
"Guten Morgen, willst du frühstücken?", meine Mutter streckte den Kopf ins Zimmer herein.
"Ja, und können wir danach in einen Drogeriemarkt?"
Sie zog die Augenbrauen hoch: "Du willst in einen Drogeriemarkt?"
Ich zuckte mit den Schultern: "Ist das etwas Schlimmes?"
Sie lachte: "Nein, natürlich nicht. Ich rufe dich, wenn das Frühstück fertig ist."

Kurze Zeit später saß ich dann auch schon am Esstisch, mein Vater allerdings auch.
Die Stimmung war ziemlich angespannt, aber meine Mutter versuchte sie etwas aufzulockern: "Wir gehen heute zusammen einkaufen."
"Das ist ja toll", mein Adoptivvater lächelte künstlich.
Ich brauchte lange, um mein Brot mit Nutella zu beschmieren. Nutella und Marmelade, das war das Einzige, was wir überhaupt dahatten.
"Soll ich dir helfen?", fragte meine Adoptivmutter freundlich, während er grinsend in sein Brot biss.
"Ich schaffe das schon."
"Lass dir doch helfen, Melrose", er kaute.
Ich legte das Messer ab: "Ich habe keinen Hunger mehr."
Meine Mutter schloss die Augen und stöhnte wahrscheinlich innerlich auf: "Wir fahren los, wenn ich fertig bin."
Und als hätte er mir nicht schon genug hereingewürgt, fügte mein Adoptivvater noch hinzu: "Das kann noch dauern, aber fang doch schon mal damit an, Schuhe zu binden."
Ich stand mit dem Rücken zum Tisch und ballte meine Hand zu einer Faust. Jetzt nur nicht die Fassung verlieren. Ich war so kurz davor, ihn einfach an der Kehle zu packen und ihn erst dann loszulassen, wenn sein Gesicht eine andere Farbe annahm, aber stattdessen lief ich schleunigst in mein Zimmer. Erst jetzt konnte ich ausatmen. Ich boxte in mein Kissen, bis ich nicht mehr konnte. Mein Arm schmerzte extrem, weshalb ich also, fluchend über mich selbst, wieder ins Bad eilte. Aber das kalte Wasser half dieses Mal nicht, und ausgerechnet jetzt rief auch noch meine Adoptivmutter.
"Ich komme!" Ich zog mir noch eine Jacke über und ging dann nach unten. Ich brauchte wirklich Hilfe beim Schuhe Binden und mein Vater sah zu, ich fühlte mich so erniedrigt.
"Brauchst du irgendetwas Bestimmtes aus dem DM?", meine Mutter blickte zu ihm auf.
"Rasierklingen", er sah dabei mich an. Mir lief es kalt über den Rücken. Das würde er nicht wagen, oder?
Wir fuhren zehn Minuten und dann stand ich vor einer riesigen Wand und die Hälfte der Produkte hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Meine Mutter war gerade in einem anderen Abteil.
"Suchst du etwas Bestimmtes?", ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, sprach mich an. Wahrscheinlich hatte sie meinen hilflosen Blick bemerkt.
"Ich, ähm, Puder."
"Für deinen Hauttyp?" Ich nickte. "Dann wäre das gut", sie deutete auf das hellste Puder in der Reihe.
"Danke", murmelte ich etwas überfordert.
"Ich bin Wendy." Ich starrte ihre blauen Augen an und ihre vollen Lippen, als könnte sie sich jede Sekunde in Luft auflösen. "Ist etwas?", sie sah mich fragend an.
"Nein, nein. Ich bin es nur nicht gewohnt, angesprochen zu werden."
"Du?"
"Ja, ich."
"Ich meine, wie du heißt", sie lachte.
Gott, war das peinlich: "Melrose."
"Du bist wohl neu hier."
"Ja wir sind hergezogen."
"Cool, dann gehst du bestimmt auf unsere Schule."
"Ja, Mittwoch", ich nickte.
"Dann sieht man sich bestimmt."
"Bestimmt", ergänzte ich. Dann winkte sie, drehte sich um und verließ das Geschäft. Ich war total schräg rübergekommen, ich schüttelte den Kopf, war ja auch egal.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt