Teil 82

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Das unsanfte Klingeln meines Weckers ließ mich aufwachen, obwohl ich todmüde war. Ich schlug mir die Hand über die Augen und stöhnte. Was war heute überhaupt für ein Tag? Dienstag, das bedeutete Schule und mir wurde noch mulmiger zumute. Heute würde ich wieder mit Herr Schwarz konfrontiert werden und mit Luke, Wendy würde mich wieder besorgt anschauen und dann sog ich scharf die Luft ein. Luke und ich sprachen wieder, Nelli wird mich abholen und ich fahre zu Mayra, meiner Tante. Das Gefühl der Aufregung war nicht klein zu reden, es kam mir gerade so vor, als hätte jemand mit voller Wucht in meinen Magen geboxt. Ich rappelte mich auf und stand dann gefühlte Stunden vor meinem Kleiderschrank, was sollte ich bei einem Besuch der Familie anziehen? Dunkle Farben wären gut, dachte ich, da Nightmares diese meistens bevorzugen, allerdings wollte ich auch nicht in komplett schwarz, wie bei einer Beerdigung, auftauchen. Im Endeffekt wurde es eine schwarze Jeans und eine dunkelrote Bluse, die Knöpfe und eine Tasche auf der rechten Seite hatte. Meine schwarzen Haare band ich zu einem Zopf zusammen und trug ein wenig Makeup auf, allerdings nur um die Augen, da ich meinen blassen Hautton nicht verbergen wollte, immerhin könnten sie mich so leichter identifizieren.

Ich stellte nochmal sicher, dass die Kette an meinem Hals hing, stopfte die leeren Briefumschläge mit meinen Initialen in meine Tasche und hastete dann die Treppe nach unten, weil ich ziemlich spät dran war. "Willst du nichts frühstücken?", fragte meine Adoptivmutter und ich schüttelte den Kopf. "Ich habe jetzt keine Zeit, ich hole mir unterwegs etwas." "Ich gebe dir Geld.", und noch bevor ich widersprechen konnte, war sie schon verschwunden. Ich zog meine Schuhe so schnell, wie es eben mit dem Gips möglich war, an. "20 Euro, dann hast du auch noch etwas, wenn du mit Nelli unterwegs bist." "Danke.", ich lächelte und machte mich dann auch schon auf den Weg, um die Bushaltestelle zu erreichen. Es war kälter als erwartet und ich stieg von einem Fuß auf den anderen, um mich warmzuhalten, aber trotzdem hatte ich eine Gänsehaut. Ich zog mein Handy hervor, weil mir eingefallen war, dass ich meine beste Freundin nochmal anrufen wollte. Sie hob nach dem dritten Klingeln ab und klang, als wäre sie erst aufgewacht:"Ja?" "Erinnerst du dich an unser Treffen?", fragte ich direkt. Nelli gähnte:"Deswegen hast du mich so früh geweckt?" "Gleich nach der Schule, Nelli. Es ist verdammt nochmal wichtig, okay?" "Okay.", nuschelte sie. "Danke." "Bitte Süße, aber lass mich jetzt weiterschlafen, es war eine lange Nacht für mich, für uns alle." Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, natürlich hatte sie einen Kater:"Stell dir den Wecker, sonst erlebst du noch dein blaues Wunder." "Ai, ai Ma'am." "Bis später!", sagte ich. "Bis später!", murmelte sie zurück.

Nach kurzer Zeit fuhr auch schon der Bus vor und ich fand mich wieder neben Noel, der unsicher nickte und dann einen Kopfhörer herausnahm, um mich zu begrüßen:"Hey, Melrose!" "Hey, Noel!", ich mochte ihn irgendwie schon von Anfang an, er war nicht so künstlich freundlich, er war einfach von Natur aus nett. Eine Weile blickte er aus dem Fenster und sah mich dann wieder an:"Hast du zufällig gestern mit Luke gesprochen?" Mir lief ein Schauer über den Rücken:"Wieso?" Noel schaltete jetzt seine Musik aus und schüttelte seinen blonden Lockenkopf ein wenig:"Er war gestern so kurz angebunden und ziemlich gereizt, aber irgendwie kam es mir so vor, als wäre in Wirklichkeit total neben der Spur." "Hast du mit ihm telefoniert?", ich erinnerte mich, dass Luke erst dachte, ich sei Noel am Telefon und ich fragte mich, warum Luke seinen Freunden das mit seinem Vater verschwieg, aber auf der anderen Seite, wie sollte er es erklären? Wahrscheinlich kam er selbst damit nicht klar. "Ja, war schon ziemlich spät, vorher war eine ganze Weile lang besetzt." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Natürlich wollte ich ihn nicht anlügen, doch wenn Luke sich dazu entschlossen hatte, erst einmal nichts zu erzählen, werde ich das wohl oder übel akzeptieren müssen, deswegen antwortete ich mit der halben Wahrheit:"Wir haben telefoniert, aber es war eigentlich alles normal, wir haben uns wieder vertragen. Es gab keinen Grund, weswegen er aufgebracht sein könnte." Noel nickte:"Ich werde ihn nachher am besten persönlich fragen."

"Ja.", hauchte ich, auch wenn mir diese Idee nicht gefiel. "Aber es freut mich, dass ihr euch wieder versteht und redet. Luke ist ein Idiot, aber er mag dich wirklich." Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich erwidern sollte. Noel verstand das und hörte wieder Musik, bis wir das Schulgebäude erreichten. Ich erkannte Flo, der schon auf Noel und die anderen wartete und wollte gerade einen Abgang machen, als Florian mich herwinkte:"Du kannst ruhig bei uns warten, Rose!" "Nicht nötig, aber danke."; ich setzte ein Lächeln auf und Noel flüsterte ihm irgendetwas zu, da kam gerade Luke um die Ecke. Wenn ich schon dachte, dass er damals, als wir uns gestritten hatten und er verschlafen die Tür öffnete, scheiße aussah, dann war das heute die Steigerung von Scheiße. Er konnte die Augen kaum offen halten und wankte ein wenig beim Laufen, seine Haare waren nicht gestylt und die braunen Strähnen standen in alle Richtungen ab. Seine Gesicht zierten dunkle Augenringe und sogar sein Gang war nicht aufrecht, wie sonst immer. "Ach du-", fing Noel an und verstummte dann aber wieder, als Luke an ihm vorbeiging, direkt auf mich zu. "Melrose.", Lukes Stimme kratzte und klang heißer. Ich war wie benebelt und alles in mir schrie, ich solle etwas sagen, aber mein kompletter Körper verkrampfte sich bei seinem Anblick. "Luke, was ist denn passiert?", fragte Flo und kam einen Schritt auf ihn zu, doch er fuhr augenblicklich herum. "Ich muss mit Melrose reden", er drehte sich gänzlich weg von mir und bedachte seine Freunde mit einem strengen Blick, "allein." Noel und Florian sahen sich unsicher an und nickten dann zögernd. Meine Beine verkrampften sich immer mehr und es kam mir so vor, als würde das alles gerade gar nicht passieren, als wäre ich nicht ich. Jetzt raunte Luke mir zu:"Kommst du?" Er setzte sich schon in Bewegung und ich brauchte einen Moment, um ihm zu folgen, doch letztendlich erwachte ich aus der Schockstarre und lief ihm hinterher. Er sagte solange nichts, bis wir am Schulgebäude vorbei waren und etwas abgelegen bei ein paar alten Bäumen standen.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt