Teil 84

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Er öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus, also drehte ich mich um und rannte zum Schulgebäude. Dieses Mal folgte er mir nicht und es fühlte sich an, als wäre ich gelöst, aber nicht im positiven Sinne. Es war so, als würde etwas fehlen, etwas verdammt Großes.
Alles um mich herum war still, doch im meinem Kopf dröhnte ein riesen Krach. Meine Beine trugen mich nicht zum Klassenzimmer, wo ich eigentlich hin sollte, sondern zu den Toiletten. Ich schloss mich in einer der Kabinen ein und setzte mich auf den Klodeckel, meinen Kopf stützte ich mit den Händen und versuchte mich zu beruhigen, doch die Tränen flossen und landeten auf dem Boden wie starker Regen. Ich zuckte zusammen, als mich Hitze durchschoss und tastete sofort nach der Morgentanne, die um meinen Hals hing und sie glühte wirklich. Irgendwie hatte die Wärme etwas Beruhigendes und ich konnte nach ein paar weiteren Schluchzern aufhören zu weinen. Mein Brustkorb hob und senkte sich schwer und ich wischte mir mit Klopapier die Augen trocken. Einen Moment blieb ich noch sitzen, dann schloss ich auf und stapfte zum Waschbecken herüber. Meine Haare klebten wegen der ganzen Tränen an meinen Wangen und an meinen geröteten Augen konnte man ganz klar erkennen, dass ich geweint hatte.

Ich versuchte mich, so gut es eben ging, herzurichten und dachte dann daran, dass ich heute Mayra finden würde, dazu brauche ich weder Luke, noch sonst irgendwen.
Als die Klassenzimmerür nach meinem Klopfen geöffnet wurde, spürte ich alle Blicke auf mir, nur Luke saß an seinem Tisch und starrte geistesabwesend auf sein Blatt. "Du bist zu spät, Melrose.", sagte Herr Schwarz mit eisigem Ton und sah finster auf mich herab. "Ich habe meinen Bus verpasst, entschuldigen Sie bitte.", nuschelte ich zusammen und sah ihn nicht direkt an, weil er mir unheimlich war. "Sollte das nochmal vorkommen, dass du zu spät dran bist, dann kommst du nicht mehr einfach nur mit einer Verwarnung davon." "Ja." Nun erschien wieder sein Zahnpasta Lächeln, aber damit täuschte er mich nicht mehr. Die Stunde war relativ schnell vorbei, was wahrscheinlich einfach an der Tatsache lag, dass ich die Hälfte verpasst hatte und so war ich wie alle anderen gerade dabei meine Sachen einzupacken. "Melrose?", Herr Schwarzs Stimme ließ mich aufhorchen und ich blickte zu ihm, wie alle anderen auch. "Ich möchte mit dir noch über dein zu spät Kommen reden und Lukas mit dir auch." "Mein Name ist Luke, Sir.", bei seiner kratzigen Stimme bekam ich ungewollt Gänsehaut. "Luke, entschuldige. Der Rest kann gehen." Wendy sah mich neidisch an, lachte dann aber nur und verschwand wie alle anderen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Darius eigentlich etwas Anderes von mir wollte.

"Luke Wilson, richtig?", Herr Schwarzs Augen wanderten von einer Liste zu Luke. "Ja, Sir." Unser Literaturlehrer nickte:"Du bist wohl nicht das erste Mal wegen Verspätung aufgefallen." "Gelegentlich werde ich aufgehalten.", antwortete er und ich dachte schon, er würde mich jetzt ansehen, aber dem war nicht so, stattdessen bohrte sich sein Blick auf Herr Schwarz. "Ich drücke heute noch ein Auge zu, beim nächsten Mal heißt das nachsitzen, haben wir uns verstanden?" Luke nickte nur. "Dann kannst du jetzt gehen." Für einen kurzen Moment sah er verwirrt aus, dass er schon davon durfte, doch dann schien es, als könnte er gar nicht schneller von hier weg kommen. Mir wurde immer mulmiger zumute und als die Tür hinter Luke ins Schloss fiel, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. "Nun zu dir, Rose." Warum nannte er mich Rose? Er war mein Lehrer. "Es wird nicht wieder vorkommen.", sagte ich schnell, in der Hoffnung, ebenfalls gehen zu dürfen, doch Herr Schwarz lehnte sich nur lässig gegen die Tafel. "Du bist nicht wegen dem Bus zu spät gekommen. Ich merke es immer, wenn Schüler mich anlügen." Ich sah auf den Boden und wechselte dann das Thema:"Hat das gestern mit Ihrem Auto funktioniert?" Er lächelte amüsiert:"Alles super gelaufen." "Gut.", murmelte ich. "Ich würde dich noch bitten den verpassten Stoff, den wir am Anfang der Stunde gemacht haben, nachzuholen." "In Ordnung." Ich nickte und wandte mich dann der Tür zu:"Der Abschleppdienst war dann aber ziemlich schnell verschwunden." Und auch ohne es zu sehen, hörte ich die Belustigung in seiner Stimme:"Ja, man könnte gerade meinen, sie fahren mit Lichtgeschwindigkeit."

Mit einer schnellen Bewegung stieß ich die Tür auf und lief dann viel zu zügig zu meinem nächsten Fach. Ich konnte meine Gedanken nicht ordnen, es ging einfach nicht. Als ich zum Deutschunterricht kam und alle mich wieder ansahen, da ich erneut zu spät war und Luke nochmal nur auf seinen Tisch starrte, bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Es fühlte sich an, als wolle er mich ersticken lassen, oder sich einen Weg nach oben bahnen, aber anstatt in Tränen auszubrechen, was jetzt eigentlich am leichtesten wäre, schluckte ich schwer und ließ mich auf meinen Platz neben Wendy fallen. "Und darfst du bei unserem heißen Literaturlehrer nacharbeiten?", sie wackelte vielversprechend mit ihren Augenbrauen und ich konnte sie einfach nur ausdruckslos anstarren. Natürlich konnte sie rein gar nichts dafür, dass mein Leben so kompliziert war, aber ich konnte auch nicht länger so tun, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen.

Ihr Lächeln erlosch und sie hatte wieder diesen besorgten Blick aufgesetzt, den ich mehr als nur hasste:"Schlechter Moment?" "Katastrophal." "Was ist denn los?"
"Miss Aben und Miss Morgen, dürfte ich erfahren, worum es in ihrem interessanten Gespräch geht? Ich wüsste wirklich gern, was mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als der Aufsatz über den 30-jährigen Krieg, der euch bald bevorsteht.", meinte unsere Lehrerin. "Nichts.", antwortete Wendy schnell und sah mich dann entschuldigend an, doch ich war froh, sie nicht wieder einmal anlügen zu müssen. Ich hatte es verdammt nochmal satt jedem alles verschweigen zu müssen, aber auch wenn ich mit der Wahrheit herausrücken würde, würde ich letztendlich allein dastehen, da mir das sowieso niemand glauben konnte, oder es würde so wie mit Luke enden. Wir hatten es beendet. Melrose und Luke war noch nie möglich gewesen, redete ich mir ein und meine Hand begann zu zittern, weil ich meinen Griff um den Stift immer mehr festigte.

Dafür erntete ich wieder Seitenblicke von Wendy, doch das brachte mich nur zum lachen. Sie würde das alles niemals begreifen, denn sie ist ein Mensch, so wie jeder in diesem Raum, so wie fast alle in meinem ätzenden Leben. Und nachdem ich einmal mit einem Lacher angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören, bis es in einem Lachanfall endete und alle mich dumm ansahen. "Es reicht!", schrie meine Lehrerin, knallte das Deutschbuch auf den Tisch und schaute mich finster an, doch selbst das ließ mich nicht verstummen. Also endete es damit, dass ich lachend aus dem Zimmer geschmissen wurde und es interessierte mich nicht einmal. In diesem Moment war mir alles so egal, ich hatte ja schon alles verloren, was aus dieser normalen Welt stammte. Da kam es auf einen Platz an einer dämlichen Schule auch nicht mehr an.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt