Teil 92

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Nachdem wir nicht in den Innenhof, sondern gleich ein weiteres Tor, das nach innen führte, passiert hatten, konnte ich doch nicht aufhören alles zu bewundern. Es wirkte heller, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Wände waren aus Stein und teilweise weiß. Eine breite Marmortreppe mit goldenem Geländer führte uns gleich nach oben und ich fragte mich, wohin all die schwarzen Holztüren hinführten. Es hingen viele Gemälde an den Wänden, die wahrscheinlich Familienmitglieder zeigten, die schon vor langer Zeit verstorben waren. Jake atmete neben mir tief durch, weshalb ich den Blick gegen den Boden wandte, ich wollte ihn nicht aufregen, weil ich so neugierig war. Doch sogar der war nicht normal, wo wir gerade liefen. An den Treppenstufen schlängelten sich wunderschöne Ornamente entlang, die alles noch edler wirken ließ. Selbst die hohen Decken waren bemalt und verziert, es war einfach atemberaubend. Wir liefen die Treppe noch weiter nach oben und traten dann in einen lichtdurchfluteten Gang, an dem sich links etliche Fenster reihten.

Hier hingen viele Kronleuchter an den Decken, die aber, wie gerade, bei Tageslicht nicht benötigt wurden und ausgeschaltet waren. Wenn man nach draußen sah, konnte man Bäume über Bäumen sehen. "Wir sind gleich bei ihr.", meinte Jara und ich atmete schneller. Was würde passieren, wenn alles schiefging? Was wird geschehen, wenn sie mich nicht als Melrose Morgen erkennt? Bei dem Gedanken einfach wieder nach Hause zu meinen Adoptiveltern zu fahren und einfach so weiterzumachen wie immer, zog sich mein Magen zusammen. Zudem war das hier mein Zuhause, auch wenn alles fremd wirkte. Jake sah mich nochmal an und zog dann die Augenbrauen hoch, bevor er an einer riesigen Tür klopfte. "Herein!", erklang eine Frauenstimme und ich zitterte innerlich. "Atme ruhig.", flüsterte Jara und Jake stieß die Tür mit einem heftigen Stoß auf. Der Raum war riesig. Die Fenster waren eher Türen, die selbst dafür noch zu groß waren und im Zimmer verteilt standen Bücherregale, Sofas, Schränke und ein wunderschöner Ofen aus Stein baute sich links von mir auf. Die Frau saß in einem schwarzen Sessel, der mit ihren Haaren verschmolz. Mir stockte der Atem, das war Mayra, Mayra Morgen, meine Tante.

Sie trug ein langes, schlichtes, schwarzes Kleid und legte ihr Buch beiseite, bevor sie aufstand. Ihre Gestalt war umwerfend, sie war größer als ich und ihr kühler Blick musterte mich aufrichtig. "Wir haben sie im Wald gefunden. Sie behauptet, sie sei-", fing Jake an. "Melrose Morgen.", sagte Mayra und ihre Augen wurden glasig. Ich war unfähig mich zu bewegen, unfähig etwas zu sagen, ich konnte lediglich nur vor ihr stehen und hoffen, nicht umzufallen. "Du erkennst sie?", fragte Jara sichtlich erstaunt, aber ich konnte den Blick nicht von meiner Tante abwenden, die jetzt begann zu nicken. "Wie könnte ich das nicht? Sie ist die Tochter von meiner Schwester." "Aber ich dachte-", meinte Jake, doch wurde wieder unterbrochen. "Lasst mich mit ihr allein. Ich möchte nicht gestört werden.", jetzt sah Mayra endlich die beiden an und nicht mehr mich. "Wie Sie wünschen, eure Hoheit.", Jara nickte kurz und Jake sah fassungslos aus. "Das glaube ich jetzt nicht." Mayra zog die Augen zusammen:"Jake, muss ich dich nochmal beten, den Raum zu verlassen?" Seine Augen wurden groß:"Nein." Jara zog ihren Zwillingsbruder hinter sich her und ich nutzte diese Gelegenheit, um ihnen nachzusehen und nicht meine Tante anzustarren.

Nachdem die Tür mit einem dumpfen Geräusch, das noch durch das Zimmer hallte, geschlossen worden war, drehte ich mich um. "Setz dich doch.", sie deutete auf einen Sessel, der ihrem gegenüber stand und dann nahm ich zögernd Platz. "Danke.", war das Einzige, was ich hervorbrachte. Mayra lächelte:"Wo warst du all die Jahre, Melrose? Was ist mit dir passiert? Oh je, ich habe so viele Fragen an dich. Wir dachten, du seist tot." Ich hoffte, ich konnte den Schreck verstecken, den ich bei ihren letzten Worten empfand. Sie hatte sich so schnell gefasst, nachdem sie mich gesehen hatte und ich war nach wie vor wie benebelt. "Ich, ähm, nein, ich lebe.", stotterte ich. Sie lächelte immer noch und ihre Augen strahlten eine ruhige Kühle aus:"Tut mir leid, wie unhöflich von mir. Möchtest du etwas trinken? Essen? War es ein weiter Weg? Wie bist du hergekommen?" "Eine Freundin hat mich gefahren und es waren nur ein paar Stunden.", endlich konnte ich wieder sprechen. "Ich hätte nicht damit gerechnet, dich je wiederzusehen, Melrose.", ihre Augen wurden wieder glasig und sie blinzelte häufig, was auch mir die Kehle zuschnürte. "Bis vor Kurzem wusste ich gar nicht, dass ich zu dieser Familie gehöre.", war das Erste, das mir in den Sinn kam und es fühlte sich alles noch so surreal an. Mein Gehirn konnte die Information, dass ich gerade mit meiner Tante sprach, einfach nicht verarbeiten. "Oh, Melrose! War dein Leben hart? Wo bist du aufgewachsen? Hätte ich gewusst, dass du noch lebst, hätte ich nach dir suchen lassen. Das tut mir so unglaublich leid.", sie war eindeutig den Tränen nahe und ich wusste einfach nicht, wie ich reagieren sollte.

"Es ist nicht deine Schuld.", sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wem ich es zu verdanken hatte, dass ich von meiner Mutter getrennt wurde, "Ich bin bei Adoptiveltern aufgewachsen und davor war ich in einem Waisenheim." Sie riss die Augen auf:"Du bist bei Menschen aufgewachsen?" "Ja, deswegen wusste ich auch nichts von dem allen hier.", langsam aber sicher beruhigte ich mich wieder. "Das ist ja schrecklich! Da hat dir auch niemand beigebracht, zu was du fähig bist, oder?" "Nein, das konnte ja keiner.", murmelte ich und schluckte heftig, um den Kloß in meinem Hals nach unten zu drücken. "Waren sie nett zu dir?" "Ja, sie waren für mich immer wie eine wirkliche Familie.", gab ich zu, was ja auch größten Teils stimmte. Mayra beugte sich zu mir vor und sah mich durchdringend an:"Warum trägst du einen Gips?" "Ein Missgeschick.", sagte ich viel zu schnell, aber sie fragte nicht weiter nach. "Warum bist du erst jetzt hergekommen, Rose? Wie hast du von uns erfahren?" "Ich habe erst kürzlich von einem Nightmare gesagt bekommen, dass ich eine Morgen bin.", ich war unsicher, ob ich Steve Wilson beim Namen nennen durfte. Immerhin musste meine Tante ihn doch kennen, wenn er früher mit meiner Mutter befreundet gewesen war. "Sag mir den Namen.", ihre Stimme hatte jegliche Wärme verloren und klang jetzt nur noch gebieterisch, was mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann antwortete ich, ohne es zu wollen:"Steve Wilson."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt