"Wir haben uns einen Plan überlegt, wie du nicht hierbleiben und nicht in ein Heim musst. Du kannst doch nicht mit dem unter einem Dach wohnen", sie deutete auf meinen Arm.
"Wie denn?", ich war nicht überzeugt.
"Wir werden morgen nach der Schule so tun als seist du entführt worden, doch in Wirklichkeit kommst du in unser Versteck", sie grinste.
Ich lachte, weil das absolut kindisch klang: "Wie wollt ihr das denn anstellen?"
"Wir klauen einen Wagen, den ich übrigens schon ausgesucht habe, und dann geht alles relativ schnell. Wir ziehen dich mit und fahren das Auto gegen einen Baum."
"Wie bitte?", ich riss die Augen auf.
"Natürlich nur, wenn keiner mehr drinnen sitzt, und wir setzen eine Leiche, die wir letzte Nacht besorgt haben, ins Auto, sodass du einfach verschwunden bist. Bis die Polizei kommt, hat Luna uns schon ins Versteck gefahren." Ich schluckte. Sie hatten sich so einen Plan für mich ausgedacht? "Was sagst du?", Nelli war schon aufgeregt, was ich sonst nicht von ihr kannte.
"Kann ich erst mal darüber nachdenken?", ich sah sie fassungslos an.
"Oh, ja natürlich, aber stell dir das doch einmal vor! Du müsstest nie wieder mit diesen Menschen unter einem Dach schlafen."
Das ging mir alles zu schnell. Ich lief im Zimmer auf und ab, unsicher was das Beste war.
Meine Adoptiveltern könnten ohne mich wieder glücklich sein und ein normales Leben führen und ich wäre bei meinen Freunden; eigentlich war es für alle Beteiligten gut, doch trotzdem war das ganze Vorhaben recht unüberlegt.
Ich sah in die hoffnungsvollen Augen meiner besten Freundin und seufzte: "Wir machen das."
Nelli begann zu grinsen: "Ich hätte gedacht, das würde länger dauern."
"Dann also direkt nach der Schule?", ich schluckte.
"Genau, dann bis morgen, wir werden alles vorbereiten", sie stand auf.
"Was ist, wenn etwas schief geht?", platzte es förmlich aus mir heraus.
"Das wird es nicht, bis morgen", sie zog die Tür hinter sich zu. Ich hörte noch, wie sie sich für das Essen bedankte und dann ging. Mir war nicht einmal die Chance geblieben, um noch etwas zu erwidern. Wahrscheinlich war sie mit Absicht so schnell gegangen, damit ich ja keinen Rückzieher mehr machen konnte.
In diesem Moment wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. Erleichterung? Trauer? Alles wirkte komisch, wie verkehrt herum.
Ich suchte mir meine Lieblingsklamotten heraus, damit ich morgen wenigstens etwas dabeihatte, das mir am Herzen lag.
"Gute Nacht!", schrie ich von oben, doch ich bekam keine Antwort. Es war wohl wirklich das Beste zu gehen.
Ich schloss die Tür und zog mich um, dann lag ich im Bett. Das Licht war aus, aber trotzdem starrte ich ins Schwarze.
An Einschlafen war gar nicht zu denken und ehrlich gesagt merkte ich erst jetzt, dass es keine Erleichterung oder Trauer war, die ich empfand, es war Angst, pure Angst. Angst davor die falsche Entscheidung getroffen zu haben.Ich lag noch ewig wach. In dieser Nacht hatte ich ungefähr zwei Stunden geschlafen und so sah ich auch aus.
Langsam zog ich mir meine anderen Klamotten an und schlich dann ins Bad. Es dauerte lange, bis ich einigermaßen mit meinem Gesicht zufrieden war und noch länger dauerte es, bis ich die Milch aus dem Kühlschrank und das Müsli aus einem Schrank geholt hatte, um zu frühstücken.
Meine Mutter kam gähnend die Treppe herunter: "Ich helfe dir, warte." Es wird wehtun, es wird so verdammt weh tun, sie zu verlassen, das wurde mir mit jeder Sekunde immer mehr bewusst. Ich werde sie vermissen, ihre Art, wie sie mich behandelt hat, wie sie mich angesehen hat.
"Danke."
"Bist du aufgeregt?", sie setzte sich mit mir an den Tisch.
"Nicht wirklich, ich bin das ja gewohnt", meinte ich.
Sie schwieg eine Weile, aber dann nickte sie: "Ich wollte dir noch sagen, egal wie sich das hier entwickelt, du wirst immer meine Tochter bleiben. Dein Vater wird keinen Keil zwischen uns treiben." Ich hörte auf zu kauen, jetzt bloß nicht sentimental werden.
"Und du meine Mutter", ergänzte ich. Sie lächelte verschlafen und ich lächelte zurück: "Du kannst dich ruhig wieder hinlegen, Mum."
"Ach Quatsch", doch sie gähnte schon wieder.
"Ich schaffe das schon, ich weiß, wo die Bushaltestelle ist."
"Aber-"
"Kein aber, schlaf gut."
"Na schön, bis später", sie wandte sich zur Treppe.
"Ja, bis später." Ich hörte die Schlafzimmertür zufallen und zugleich lief mir eine einzelne Träne über die Wange. Bis später war eine Lüge gewesen, die mir viel zu leicht über die Lippen gekommen war, und ich hasste diese Verabschiedung jetzt schon.
Als ich mit schlechtem Gewissen in mein Zimmer ging, um meinen Rucksack zu holen, blieb ich eine ganze Weile stehen und betrachtete den Raum. Er würde bald unbewohnt sein. Ob meine Eltern wohl wieder umziehen werden, sobald ich verschwunden bin? Immerhin ist das Haus für zwei Personen schon ziemlich groß.
Ich schüttelte den Kopf, hing mir meinen Rucksack über die Schulter und band dann ewig meine Schuhe. Jetzt war absolut der falsche Zeitpunkt, um sich noch Gedanken darüber zu machen, wie meine Adoptiveltern ohne mich auskamen. Ich atmete tief durch und dann schloss ich die Tür, es war doch sowieso kein richtiges Zuhause.
Ich lief ziemlich genau 15 Minuten zu der Bushaltestelle und wartete ungefähr genauso lang. In dem Bus saßen nur Jugendliche, manche sahen mich kurz an, andere beachteten mich erst gar nicht. Ich sah die ganze Zeit aus dem Fenster, es würde besser werden, es musste einfach. Nur diesen einen Tag alle abweisen.
Das Schulgebäude war nichts Besonderes und ich suchte wie jedes Mal zuerst das Direktorat. Einige Schüler sahen mich komisch an, doch das war mir egal; lange musste ich es hier sowieso nicht aushalten. Ich klopfte, als ich die richtige Tür gefunden hatte.
"Ja", kam es genervt von innen.
"Guten Morgen, ich bin Melrose, die Neue."
Ein älterer Mann rückte seine Brille zurecht und sah mich an: "Ach, genau. Du musst in den Raum 904, an dem müsstest du vorbeigekommen sein."
Ich nickte: "Danke."
"Sonst keine Fragen?" Ich schüttelte den Kopf, denn die waren bei meinem Vorhaben nicht nötig. "Was hast du denn mit deinem Arm gemacht?"
"Ein blödes Missgeschick", murmelte ich und verließ zügig das Zimmer. Ich hielt nach dem Raum 904 Ausschau und fand ihn auch relativ schnell. Dort war noch kein Lehrer, nur ein paar Schüler saßen auf den Tischen und Stühlen. Sie sahen mich nur kurz an, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen widmeten.
DU LIEST GERADE
Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?
ParanormalDieses Buch ist mittlerweile mehrfach überarbeitet worden & diese Fassung ist jetzt überall online als Taschenbuch erhältlich! Link dazu in meiner Bio! :) Melrose ist eigentlich ein ganz normales Mädchen, wenn man davon absieht, dass sie Menschen mi...