Teil 102

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Das Gefühl zu beschreiben, das mich durchströmte, während ich so dicht an der Morgentanne stand, ist unglaublich schwer. Es kam mir so vor, als könnte mich nichts aufhalten, als könnte ich alles schaffen, wenn ich es nur wollte. Ich strich sanft mit den Fingern über die Einkerbungen und dankte im Stillen allen meinen Vorfahren und dem Baum selbst. Als mich etwas an der Schulter drückte, zuckte ich zusammen und stand dann wieder neben Mayra, die mich anlächelte. "Und?" Ich drehte mich zu meinen Großeltern und Nelli um. "Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.", am liebsten hätte ich meine Hände wieder gegen die Tanne gedrückt, nur um dieses beruhigende Gefühl zu spüren und mir für einen Moment keine Sorgen zu machen. "Du hast geschrien!", platzte es aus Nelli heraus, die noch ziemlich blass aussah. Meine Tante schüttelte den Kopf:"Ich habe dir doch gesagt, das ist normal."
"Ich glaube ich habe jetzt verstanden, wie das funktioniert.", sagte ich schnell. Mayra sah mich mit großen Augen an:"Das Kontrollieren?" "Ja." Sie starrte mich förmlich an:"Probier es aus." "Was?" "Zwing Nelli dazu, sich zu bücken." Ich sah zu meiner besten Freundin herüber:"Das ist doch Blödsinn." Nelli blickte unsicher hin und her.

"Es ist doch nichts Schlimmes. Ich möchte nur sehen, ob du es kannst und an ihr ist es leichter für dich als an mir." Nelli stellte sich kerzengerade hin:"Ist schon in Ordnung, Melrose." Ich schluckte, doch ich wollte es beweisen und sofort überkam mich eine wohlige Wärme. "Nelli", meine Stimme klang wieder fest und bestimmt, "bück dich."
Sie zögerte nur eine Millisekunde, dann tat sie es. Mayra schnappte hinter mir nach Luft:"Wie ist das möglich?" Jetzt trat meine Großmutter hervor:"Sie ist etwas Besonderes, das wissen wir schon seit ihrer Geburt." Ich verstand nur Bahnhof:"Was?" Meine Tante sah mich ungläubig an:"Kein anderer Nightmare hat jemals so schnell seine Fähigkeit kontrollieren können." Erschrocken sah ich alle an, doch meine Großeltern schauten mich zuversichtlich an, was mich wieder entspannen ließ. Insgeheim dankte ich auch noch Alisia, denn ich hätte keine Ahnung, was passiert wäre, wenn sie mich damals im Traum nicht gewarnt hätte und ich mich nicht daran hätte erinnern können. "Mach es nochmal.", bat mich Mayra. "Wir wollen sie doch nicht gleich überanstrengen.", ertönte mein Großvater. "Dann eben später.", sie trat schon den Rückweg an, "Wir sollten ins Schloss zurückkehren, es wird kalt."

Ich lief neben meiner Großmutter und der Rest vorne weg. "Das hast du wirklich gut gemacht, Rose.", flüsterte sie und ich fragte mich, ob sie wusste, dass ich es lieber mochte, Rose genannt zu werden. "Danke.", ich lächelte und sah dann nochmal zur Tanne zurück, die immer kleiner wurde, um mich stumm zu verabschieden. "Fiel es dir schwer?", ihre warmen braunen Augen musterten mich aufmerksam. "Nein, ich hatte zwar zuerst Angst, aber dann ging es." Sie nickte:"Mayra war geschockt, aber ich wusste, dass du dazu in der Lage bist." "Wegen meiner Geburt damals? Weil die Tanne gewachsen ist?" Leona lächelte:"Ja, aber du bist auch so etwas Besonderes in meinen Augen." "Erinnere ich dich an Alisia?", die Worte hatten schneller meinen Mund verlassen, als dass ich darüber hätte nachdenken können, aber sie blieb ruhig. "Ja, du hast viele Eigenschaften von ihr." "Wie war sie denn so, damals?", es schmerzte, von ihr in der Vergangenheit zu reden, obwohl sie doch gar nicht tot war. "Sie weiß immer, was sie will, sie ist entschlossen und gerecht. Sie ist feundlich und unglaublich gnädig. Sie hat ihre Rolle als Königin sehr ernst genommen.", meine Großmutter sah mich nicht mehr an. "Warum bist du eigentlich nicht die Königin?" Jetzt lachte sie leise auf:"Ich bin schon alt, Rose, und außerdem hat Alisia ihre Schwester zur neuen Königin ernannt, nicht mich." "Weißt du, wo sie sein könnte?" Sie sah mich traurig an:"Nein." Daraufhin gingen wir den Rest des Weges schweigend nebeneinander her. Der Himmel sah wieder nach Gewitter aus, doch es kam nichts herunter, dank dem Kraftfeld.

"Sie kann was?", kreischte Jara schon fast, als wir ihr und Jake im Schloss begegneten. Jake musterte mich mit verschränkten Armen und Erik gaffte mich förmlich an:"Das ist doch krank." Wieder einmal spürte ich alle Blicke auf mir und wünschte, ich könnte mich in Luft auflösen. Nun räusperte sich Jake:"Es gibt für alles ein erstes Mal, also bitte, macht kein Drama daraus." "Kein Drama?", Erik sog scharf die Luft ein, "Seit der Existenz unserer Spezies ist das nie vorgekommen!" "Da hat er recht.", murmelte Jara und sah mich aus dem Augenwinkel an.
Wir saßen zu fünft in irgendeinem großen Sal und wie immer wurde über mich geredet. Nelli sah mich mitfühlend an. Jara und Jake stritten sich mal wieder, während Erik ab und zu seinen Teil beitrug. "Könnt ihr nicht einfach mal aufhören, die ganze Zeit über mich zu reden?", ich war lauter als beabsichtigt. Augenblicklich verstummten alle und glotzten mich wie Autos an. Ich rieb mir über die Stirn:"Tut mir leid, aber es nervt einfach." Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Nelli sich einen Lacher verkniff. Jake war der Erste, der antwortete:"Selbstverständlich." Erik und Jara nickten nur stumm, dann traute sich keiner mehr etwas zu sagen. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus:"Ich gehe in die Bibliothek.", ich war schon beim Gehen. "Findest du den Weg?", Jake kam neben mich. "Ja, ich denke schon." Er legte den Kopf schief und sah mich durchdringend an:"Bist du dir da sicher?" Ich verstand, dass er mit mir allein reden wollte:"Ach am besten bringst du mich hin." "Dann führe ich in der Zeit Nelli durch das Schloss.", meinte Erik und meine beste Freundin zuckte nur mit den Schultern.

Auf dem Gang schaute ich zu dem blonden Kopf hoch:"Was wolltest du besprechen?" "Ich wollte nur sichergehen, dass du die Abteilung mit den Fähigkeiten der Nightmares findest." Einen Moment stutzte ich, jedoch klang er aufrichtig, also nickte ich:"Danke."
Wir stiegen ein paar Treppen hinunter, bis wir im Erdgeschoss ankamen und dann studierte er irgendeine Liste an der Wand. "Regal 114, das ist auf der anderen Seite am Ende.", er drehte sich um, damit ich mich in Ruhe umsehen konnte, doch ich hielt ihn noch kurz ab. "Jake?" "Ja?" "Wenn man andere kontrolliert und ihr Gedächtnis manipuliert, kann man sie auch vergessen lassen?"
Er sah mich durchdringend an und ich dachte schon, er würde mir nicht mehr antworten:"Ja, das kann man. Wir sehen Erinnerungen, setzen unseren Willen durch, lassen vergessen und kontrollieren." "Und wie weit reicht das? Also wie viel kann man jemanden vergessen lassen?" "Melrose, warum willst du das wissen?", sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. "Wenn du es mir nicht sagst, kann ich es auch einfach nachlesen.", sagte ich und versuchte dabei so beiläufig wie möglich zu klingen. "Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube man kann Menschen so ziemlich alles vergessen lassen und Nightmares ein paar Jahre.", er sah mich immer noch so komisch an. "Gut, danke." "Melrose, ich halte das für keine gute Idee." "Was?" "Man sollte nicht mit Erinnerungen spielen, da gibt es eine Menge, die man falsch machen kann." Jetzt musste ich grinsen:"Wir sind doch die Bösen, die mit Ängsten spielen."
Jake lächelte traurig:"Du hast noch gut eine Stunde, dann gibt es Essen."

Trotz der Angaben brauchte ich noch ein paar Minuten, bis ich das besagte Regal gefunden hatte. Dann las ich mir die verschiedenen Buchtitel durch: Nightmare, Morgentannenzauber, Gedächtnisse manipulieren, Ängste kontrollieren, Töten durch Berührung, Willensmanipulation, Zauber ausführen, Fähigkeiten der verschiedenen Familien.
Der letzte Titel war der, nach dem ich gesucht hatte. Ich holte mir eine Leiter und zog das dicke Buch hervor. Es staubte ein wenig, sodass ich husten musste und dann drückte ich den Wälzer gegen meinen Oberkörper und kletterte wieder nach unten. Ich musste nicht lange laufen, um eine Sitzgelegenheit mit einem Tisch zu finden. Ich legte das Buch vor mir ab und betrachtete es für einen Augenblick. Der Einband war dunkelgrün und schon relativ abgenutzt, die goldene Schrift war kaum lesbar. Ich blätterte ein paar Seiten um, die Schrift war winzig. Ich suchte das Inhaltsverzeichnis und fand es auch sofort, ich überflog die einzelnen Worte, wie: Tarnung, Trugbild, Schnelligkeit, Zeitlupe und Talent. Das, was mir ins Auge stach, war Körpermanipulation. Die Seite hatte ich schnell gefunden und in geschwungener Schrift stand das Wort über den ersten Zeilen.

Körpermanipulation
Die Familie Brand verfügt über die Manipulation der Körper von Nightmares und Menschen.
Sie können für eine gewisse Zeit Änderungen an der Gesundheit einer betroffenen Person vornehmen oder sie gar kränken. Die Organe können von ihnen beherrscht und ausgeschaltet werden. Folgendermaßen sterben Todesopfer schnell und durch natürlichen Schmerz, der von einer Krankheit oder einem Angriff verursacht wurde.
Häufige Methoden des Prozesses sind innerliche Verblutung, Herzstillstand, Ersticken..

Ich schnappte nach Luft, ersticken. Steve Wilson wäre fast erstickt. War das der Beweis? Konnte dieser Text beweisen, dass er von einem Familienmitglied der Brands angegriffen wurde? Ich las es nochmal und holte dann hastig mein Handy hervor, um es abzufotografieren. "Rose?", Nellis Stimme kam von ein paar Metern entfernt. Erschrocken drehte ich mich um, konnte sie aber nicht sehen. "Ich bin hier!", rief ich und kurz darauf stand sie neben mir. "Lukes Vater ist fast erstickt, einfach so, denkst du, dass-" "Pscht.", meine beste Freundin überflog ebenfalls die ersten Zeilen und sah mich dann kritisch an:"Luke, warum Luke?" "Sein Vater ist ein Nightmare, Steve Wilson, hast du das schon vergessen?" Sie winkte ab:"Ich weiß, ich weiß, aber warum interessiert es dich?" Ich öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus. "Siehst du? Lass diesen Menschen endlich los." "Steve wäre fast gestorben!" "Fast, da haben wir es doch, er lebt, kein Grund zur Sorge." "Nelli!" Sie stöhnte:"Hast du nicht schon genug eigene Probleme, Süße? Findest du es nicht genug, dich mit deinen Familienproblemen herumzuschlagen?"
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich war wütend, verletzt, traurig und gleichzeitig wusste ich, dass sie irgendwo recht hatte. "Es gibt jetzt schon Mittagessen, deswegen bin ich hier.", murmelte sie mir zu, sah aber auf den Tisch.
"Denkst du, es war das Werk der Familie Brand?", fragte ich nochmal. "Kann sein, ich weiß es nicht." "Warum sollten sie ihn umbringen wollen?" Nelli seufzte:"Keine Ahnung, vielleicht wollten sie das gar nicht, woher soll ich das wissen." "Das ergibt einfach keinen Sinn." Nelli wurde unruhig:"Es gibt für alles eine Erklärung und alles passiert aus einem bestimmten Grund, in Ordnung? Können wir jetzt bitte gehen?"

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt