Teil 68

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"Kannten sie die junge Dame?", fragte die alte Frau, als sie mir die Tüte mit den Brötchen reichte. Ich zuckte mit den Schultern:"Nur flüchtig, wir gehen auf dieselbe Schule." Sie nickte:"Dich habe ich hier auch noch nie zuvor gesehen, wie heißt du?" "Oh, das liegt daran, dass wir erst hergezogen sind und mein Name ist Melrose, Melrose Morgen." Es fühlte sich unglaublich richtig an den Nachnamen ebenfalls auszusprechen. "Melrose, ein sehr schöner Name. Rose ist die Abkürzung, nehme ich an?" Ich nickte stumm und nahm die Tüte entgegen. "Rosen sind wunderschöne Blumen, nicht wahr?", sie sah kurz verträumt zur Seite und schaute mich dann wieder direkt an, "Tut mir leid, wahrscheinlich wirst du jedes Mal mit diesem Blumenkram belästigt." Ich lachte:"Manchmal, ist aber nicht weiter schlimm." Sie rückte ihre Brille wieder zurecht und lächelte:"Es war sehr schön dich kennenzulernen, Melrose Morgen. Wir werden uns bestimmt noch öfter sehen." "Ja, das werden wir", kurz vor der Tür hielt ich inne, "wie heißen Sie denn, wenn ich fragen darf?" Ihr Grinsen wurde noch breiter:"Rosemarie." "Bis bald, Rosemarie!", lächelnd verließ ich den Laden und machte mich auf den Heimweg.

Ich lief langsam, doch schon nach ein paar Schritten hatte ich schon wieder das Gefühl, dass mich jemand verfolgen würde. Ich drehte mich nach allen Richtungen um, aber nirgends war jemand zu erkennen. Unverzüglich erhöhte ich mein Tempo, dass ich nicht losrannte, wunderte mich selbst. Ich versuchte meinen Atem und meine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Warum sollte mich jemand verfolgen, was gab es für einen Grund mir hinterher zu laufen? Als mir nichts einfiel verlangsamte ich meine Schritte wieder und straffte die Schultern, aber die Unruhe verschwand nicht gänzlich. Zuhause angekommen stellte ich fest, dass alle noch schliefen und ich konnte den Tisch in Ruhe zu Ende decken. Gerade war ich dabei den Kaffee zu machen, als meine Adoptivmutter durch die Tür kam:"Melrose, warst du das?" Wer denn sonst, wollte ich schon sagen, aber nickte dann nur. "Das ist ja unfassbar lieb, warum hast du das gemacht?" "Warum nicht?", ich lächelte möglichst neutral und dann stand auch schon mein Adoptivvater im Türrahmen. Erst sah er mich misstrauisch an, doch dann grinste er, als er seine Frau erblickte:"Werden wir jetzt jeden Tag so frühstücken?" "Ich fürchte nicht.", lachte meine Mutter und ich entspannte mich. Hier waren nur wir drei und wir würden jetzt frühstücken, wie eine ganz normale Familie.

Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Wecker geweckt und ich stöhnte. Schule war jetzt so ziemlich das Letzte, mit dem ich mich beschäftigen wollte. Die Nacht war traumlos verlaufen, was mich auf der einen Seite traurig machte, weil ich so keine Zeit mehr mit Alisia verbringen konnte, aber auf der anderen Seite war ich auch erleichtert, da ich in meinem Traum oft flüchten musste. Meine Beine waren schwer wie blei und ich schleppte mich ins Bad, um mich fertig zu machen. Mittlerweile kam ich sogar einigermaßen mit dem Gips zurecht, der mich jeden Tag wieder daran erinnerte, bei wem ich wohnte. Ich band meine schwarzen Haare zu einem Zopf zusammen und ging dann frühstücken. "Guten Morgen!", begrüßte mich meine Adoptivmutter, sah aber nicht von ihrer Zeitung auf. "Morgen!", gab ich zurück und löffelte meine Cornflakes, die sie mir schon bereitgestellt hatte. "Was hast du jetzt?" Ich sah sie mit vollem Mund an und kaute zu Ende:"Weiß ich gar nicht." Daraufhin stellte sie ihre Tasse ab und lächelte mich seelenruhig an:"Du schaffst das schon." Stumm nickte ich, ich hasste es, wenn sie sowas sagte und dachte, sie würde mir damit helfen, mich bei neuen Schulen zurecht zu finden. Aber ich hatte ja noch Wendy, ich hoffte nur inständig, dass ich sie heute nicht verpassen würde oder dass sie zu spät kam.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle lief ich wie ein Eisklotz, es wurde langsam Winter. Ich sah nach links und rechts, bevor ich die Straße überquerte und nahm auf einer Bank Platz, die ein wenig windgeschützt war. Mein Blick suchte die leeren Straßen ab, aber nirgends war ein Auto zu sehen. Natürlich würde Luke mich nicht mehr abholen, ich zuckte zusammen. Monster. Nicht schon wieder, ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber es wollte einfach nicht funktionieren. Als ich ein Rascheln hinter mir vernahm, stand ich abrupt auf und drehte mich um, doch es war nichts außer Gebüsch zu sehen. Jetzt wirst du schon paranoid, reiß dich zusammen! Ich suchte immer noch die kahlen Sträucher ab, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, aber da war einfach nichts. "Wollen Sie mitfahren?", bei der Stimme eines Mannes schreckte ich hoch. Es war der Busfahrer, der vor mir gehalten hatte und mich jetzt fragend ansah. "Ja.", ich nickte, warf noch einen letzten Blick über die Schulter und stieg dann ein. Ich schaute durch die Reihen und sah direkt Noel an, der mir kurz winkte. Ich konnte jetzt nicht einfach an ihm vorbeigehen, das wäre unhöflich, also ließ ich mich neben ihn fallen. "Hey!", sagte er lächelnd. "Hey!", gab ich zurück und versuchte so weit wie möglich von ihm wegzurutschen. "Wie war dein Treffen am Samstagabend noch?" Ich runzelte die Stirn:"Mein was?" "Du bist doch so früh gegangen, weil du meintest, du hättest dich verabredet." "Ach so, ja, ja, war gut.", ich versuchte meine schlechte Lüge mit einem Lachen zu überdecken, aber er hatte so oder so nichts mitbekommen.

Noel zog die Augenbrauen hoch:"Darf ich fragen, wer es war?" "Eine Freundin, die ich schon kannte, bevor wir umgezogen sind.", sagte ich und holte mein Handy hervor, um mich nicht weiter unterhalten zu müssen, was er anscheinend auch verstand, weil er seine Kopfhörer wieder in seine Ohren steckte. Und so verbrachten wir die Fahrt zur Schule schweigend nebeneinander.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt