Teil 108

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Danach lief alles schnell ab, doch für mich war es wie in Zeitlupe. Mayra sagte uns, wir sollen im Schloss bleiben und sie würde sich darum kümmern, aber ich konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben, während ein Teil meiner Familie draußen in den Wäldern nach den Eindringlingen suchte. Ich lief in meinem Zimmer auf und ab und Nelli hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. "Vielleicht war es nur ein Fehlalarm.", murmelte sie, doch ich konnte ihrer Stimme anhören, dass sie das selbst nicht glaubte. "Oder Rebellen.", fügte ich hinzu und beschleunigte meine Schritte nochmals. "Es gab schon ewig keinen Angriff mehr", sie setzte sich auf, "und hör bitte auf, herum zu tigern, das macht mich nur noch nervöser." "Ich kann nicht still sitzen und einfach nichts tun! Was ist, wenn Mayra angegriffen wird? Oder Jake, Jara, Anna-" "Melrose! Das sind Morgens, sie können auf sich aufpassen." "Das kann ich auch, ich will auch helfen!" "Ich verstehe gar nicht, warum du dich beschwerst. Du musst nicht in die eisige Kälte und kannst in Ruhe im Schloss warten, während der Rest für dich erledigt wird, also was ist dein Problem?" Ich hielt in der Bewegung inne und schrie Nelli beinahe an:"Was mein verdammtes Problem ist? Ich habe keine Ruhe, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Ich kann nicht in meinem Zimmer bleiben und darauf warten, dass etwas passiert, denn wenn ich dabei bin, könnte ich es vielleicht verhindern." "Es wird aber nichts passieren." "Woher willst du das wissen?", jetzt war ich den Tränen nahe, "Damals hat auch keiner gewusst, dass die Rebellen angreifen und jetzt sieh mich an! Nach Jahren habe ich erst meine wahre Familie gefunden und das auch nicht komplett, denn meinen Vater werde ich nie kennenlernen, da er tot ist! Und meine Mutter? Die könnte sonst wo sein und ich habe keinen blassen Schimmer, wie es ihr geht oder was sie macht. Ich werde hier nicht herumsitzen und warten, ob etwas passiert. Ich gehe da jetzt raus!"

Ich griff nach meiner Jacke und stürmte auf die Tür zu. "Melrose, nein, du hast Mayras Anweisungen doch ausdrücklich gehört. Keiner verlässt das Schloss.", sie versperrte mir den Durchgang und verschränkte ihre Arme. "Geh mir aus dem Weg!", zischte ich. "Nein, du wirst dich nicht wieder Hals über Kopf nach draußen stürzen. Wir wissen doch gar nicht, mit was wir es zu tun haben." "Nelli, geh mir aus dem Weg!", ich wurde immer lauter, doch sie wich keinen Schritt zurück. "Nein.", sie stampfte mit dem Fuß auf. Ich biss die Zähne zusammen:"Ich komme hier raus, das weißt du." Sie schluckte, doch gab immer noch nicht nach. Ich schloss die Augen und vor mir tauchte die Morgentanne auf:"Geh beiseite und bleib im Schloss, das ist ein Befehl." Ihre Miene änderte sich nicht, doch ihr Körper reagierte und sie ließ die Arme schlaff nach unten hängen, dann trat sie zurück, sodass ich die Tür öffnen konnte. Jetzt hielt sie mich am Arm zurück und ich riss mich sofort los. "Bitte, bleib hier!", sie flehte mich schon fast an und in diesem Moment wich die Wut ein wenig aus mir, doch ich konnte nicht, ich musste selbst nach den Eindringlingen suchen.
"Es tut mir leid.", ich schmiss die Tür zu und rannte den Gang entlang. Das ganze Schloss war wie leer gefegt, nur draußen stürmte es noch. Das waren die einzigen Geräusche, das Heulen des Windes, der Regen, der nach Applaus klang und das gespenstige Klopfen der Äste an den Fensterscheiben. Bei der Treppe wäre ich vor lauter Eile fast ausgerutscht, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig halten. Ich zog meine Jacke fest zu und dann stürmte ich über den Innenhof und durch den Schlossgarten in die Richtung, in die auch die Zwillinge losgegangen waren. Nach ein paar weiteren Metern lief ich langsamer und sah mich um, doch ich erblickte keine Menschenseele.

Hinter jedem Baum könnte jemand lauern, rief ich mir ins Gedächtnis und versuchte mich so ruhig wie möglich vorwärts zu bewegen. Der Regen lief mir in den Nacken und eine Gänsehaut überkam mich, doch ich ließ mich davon nicht beirren. Ein Ast knackte und ich fuhr erschrocken herum, doch es war nur ein Reh, das erste Tier, das ich hinter dem Kraftfeld gesehen hatte.
Weiterhin probierte ich lautlos umherzuschleichen, doch auf dem nassen Laub und mit dem ganzen Schlamm war das nahezu unmöglich. Ich ging bestimmt eine gute viertel Stunde dem Rand des Kraftfelds entgegen und war immer noch niemandem begegnet. Wieder hörte ich ein Geräusch und sah mich um, dann konnte ich eine kleine Gestalt ein paar Meter weg von mir ausmachen. Schnell duckte ich mich hinter einen Baumstamm. Die Person trug eine Kapuze und war komplett in schwarz gekleidet; nach der Statur zu urteilen ein Mann. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich zählte im Kopf bis zehn, dann rannte ich los. Er fuhr sofort herum und fast wären wir aneinander gerannt. "Melrose!", schrie er aus.
"Jake?", stieß ich hervor. Ich bremste und er konnte mich gerade noch halten, sonst wäre ich auf dem nassen Laub ausgerutscht. Seine Augen funkelten wild:"Was zur Hölle machst du hier?"
"Ich will helfen.", ich verschränkte die Arme und mir war schrecklich bewusst wie kindisch das klang. Jake rieb sich über die Stirn:"Du solltest doch im Schloss bleiben. Ich habe dich für einen Eindringling gehalten. Was meinst du, wäre passiert, wenn ich dich angegriffen hätte?" "Sag mal, geht es noch? Ihr tut alle gerade so, als wäre ich ein Taugenichts. Ich gehöre auch zur Familie Morgen, falls du das schon vergessen hast!" Er stöhnte:"Nein, habe ich nicht. Trotzdem hast du nicht so viel Erfahrungen wie der Rest. Wenn das Rebellen sind, wüsstest du gar nicht, was du tun solltest." Ich wollte widersprechen, doch irgendwie hatte er recht. Wenn es eine riesige Menge von anderen Nightmares wäre, wäre ich mehr als nur überfordert. "Ich kann aber nicht drinnen sitzen, während ihr euer Leben riskiert." Jetzt lachte er auf:"Wir wissen uns schon zu helfen, keine Angst. Ich bringe dich zurück zum Schloss."

Er setzte sich schon in Bewegung, doch ich blieb wie angewurzelt stehen:"Nein." "Ich lasse dich hier draußen ganz sicher nicht alleine suchen.", ich konnte den harten Ton seiner Stimme nicht überhören. "Doch wirst du.", sagte ich. "Versuch erst gar nicht mich zu irgendetwas zu zwingen, denn das wird nicht funktionieren." Das war auch nicht das, was ich geplant hatte. Ich wusste, dass er mich nur auf eine Art gehen lassen würde und das war Schmerz, psychischer Schmerz.
"Hast du deswegen Angst mich allein zu lassen? Weil du Amalia allein gelassen hast? Weil du nicht für sie da warst? Willst du deswegen den Rest der Welt beschützen? Weil du es bei ihr nicht konntest?" Er starrte mich an, er starrte mich einfach nur an, dann öffnete er den Mund und schloss ihn wieder. Mein Herzschlag dröhnte so laut in meinen Ohren, dass ich schon dachte, er könne es auch hören, doch nach ein paar weiteren Sekunden hatte er seine Sprache wieder gefunden:"Gut, geh doch! Du kannst doch eh alles, weil du ein Wunderkind bist! Also warum solltest du es nicht auch mit einem Eindringling aufnehmen können? Du hast recht; das zu glauben war so dumm von mir." Jetzt lachte er auf:"Wie könnte ich auch jemals irgendetwas beschützen? Es macht doch jeder sowieso das, was ihm in den Sinn kommt!"
Ich wollte etwas sagen, mich entschuldigen, ihn anschreien, weinen, doch meine Lippen waren wie versiegelt. Ich stand wie eingefroren auf dem nassen Waldboden. Jake drehte sich um und lief davon, ohne sich umzudrehen, und ich sah ihm nach, bis er von den Bäumen und dem Regen verschluckt wurde.

Ich hatte ihn verletzt und er mich, das war doch nur fair, oder?
Ich kickte gegen das nasse Laub vor mir und die einzelnen Blätter segelten langsam wieder zu Boden. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, ging ich weiter. Mein Blick suchte jeden Baum und jeden Fels ab, bei jedem Geräusch blieb ich stehen, nur um mich dann wieder in Bewegung zu setzen. Es lief schon ab, wie automatisch.
Laufen. Geräusch. Stehen. Lauschen. Umsehen. Weitergehen.
Vielleicht war es ja wirklich nur ein Fehlalarm oder derjenige war schon wieder verschwunden. Langsam aber sicher hatte ich es satt, die ganze Zeit durch den Regen zu stapfen und doch nichts zu finden, also entschied ich mich dazu, in Richtung Schloss zurückzugehen. Die Kälte fraß sich mal wieder in meine Kleider und ich seufzte innerlich auf. "Rose!", flüsterte es. Mein Kopf schoss in alle Richtungen, doch ich sah die Ursache des Geräusches nicht. Waren das wieder Einbildungen oder Realität, Wunschdenken oder sprach da wirklich jemand zu mir?
Ich beschleunigte meine Schritte:"Melrose!"
Ich fuhr herum und dann stand er vor mir.
Im letzten Moment konnte ich einen Aufschrei noch unterdrücken.

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Ich weiß, ich weiß, ich bin scheiße :)

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt