Teil 117

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Ich ließ zu, dass Jara mich wie eine Gefangene abführte. Mir war alles egal, ich hatte alles verloren, also was ergab das hier noch für einen Sinn?
"Wie fühlst du dich?", fragte sie und ich hätte am liebsten auf ihr Gesicht eingeschlagen, doch die Handschellen hinderten mich daran. "Ist das dein Ernst?", erwiderte ich viel zu laut. "Daran wirst du dich gewöhnen müssen, an die Hinrichtungen, meine ich.", sie lächelte schief und ich kämpfte gegen die Tränen an. "Ihr habt alle zugesehen!" Jara drückte mir die Schulter:"Er bekommt ein Grab, wo er gewohnt hatte." Als ob mich das trösten würde!
"Er hatte auch noch eine Tochter! Eine Frau und einen Sohn!", schrie ich und dachte an Zoe, die jetzt vielleicht ahnungslos Zuhause saß und Musik hörte. "Melrose, jeder Tod fordert Opfer, aber dieser diente unserer Spezies." "Er dient nur Mayra, wieso versteht das keiner?", meine Stimme brach und ich schluchzte auf. "Du bist aufgelöst. Ich weiß, dass man das am Anfang nicht alles nachvollziehen kann, das wird aber schon bald besser, versprochen." Ich bekam keinen Ton mehr heraus.
Bald, sie sprach von der Zukunft. Von der Zukunft, die ich nicht hatte.

Sie schloss die Tür hinter uns ab, nachdem wir in das Lesezimmer getreten waren. "Ich renne schon nicht weg.", murmelte ich, es half sowieso nicht. "Ist dein Kopf in Ordnung?", Jara reichte mir etwas zu trinken und ich nahm es widerwillig an mich. "Meinem Kopf geht es blendend im Gegensatz zu Steves.", sagte ich bitter. Daraufhin hörte ich nur Seufzen und nippte an dem Glas Wasser.
"Jake hat mir davon erzählt.", sie riss mich aus meinen Gedanken an Luke und Doktor Wilson. "Wovon?" "Davon, dass du glaubst, Mayra sei daran Schuld, dass deine Mutter verschwunden ist." Ich trank einen kräftigen Schluck:"Ich glaube es nicht, ich weiß es." Jara lachte auf:"Du weißt es, ach so." Ich blickte sie hasserfüllt an:"Du denkst, ich lüge." "Ich denke es nicht, ich weiß es.", sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Ich grinste:"Ihr werdet schon bald euer blaues Wunder erleben."

Wir warteten und warteten und ich fragte mich, worauf genau. Man konnte die Anspannung im Raum förmlich spüren und ich versuchte meine Wut und Trauer im Zaum zu halten. Ich saß einfach mit verschränkten Beinen, zusammengeketteten Händen und etwas zu trinken auf einem Sofa, obwohl gerade jemand ermordet worden war. Ich warf einen Blick nach draußen, die Wolken zogen sich langsam zusammen. Es fühlte sich nicht echt an, es war nicht richtig, das konnte einfach nicht real sein. "Wo bleiben die denn?", fragte Jara, aber die Worte drangen nicht zu mir durch, ich hatte den Anschluss an die Realität verloren. Ihre Lippen bewegten sich weiterhin, doch ich wusste nicht, was sie sagte. Hatte sie mich angesprochen? Hatte sie eine Frage gestellt? Erwartete sie eine Antwort?
Zeit ist relativ. Ich starrte auf die Wanduhr und beobachtete den Zeiger, der sich im Sekundentakt vorwärts bewegte. Wie lange war Steve jetzt schon tot? 20 Minuten vielleicht.
Die Tür wurde von außen aufgeschlossen und Jara war schon aufgesprungen, während ich sitzen blieb. "Es ist so weit, wir können uns jetzt um ihn kümmern.", Mayras Stimme zu hören war wie ein Schlag ins Gesicht, der meine Wut zurückbrachte. Ich stand auf und trampelte zu den beiden hinüber.
"Melrose, wie ich sehe, hast du dich beruhigt." Meine Fäuste verhärteten sich, doch ich lächelte, behielt die Maske auf:"Ich werde mich daran gewöhnen müssen."

Unsere Schritte hallten durch die Flure wider und ich stellte schon bald fest, dass wir auf einen der Türme zugingen. Der Raum war rund und nicht gerade groß, trotzdem standen weiße Schränke, ein Bett und zwei Tische darin. An einem davon saß Luke neben Jake, sein Blick war gesenkt. "Setz dich.", befahl mir Mayra, doch ich sah sie nur stumm an. Ich hatte meine Kontrolle wieder.
"Melrose, setz dich!", sagte sie lauter und ich tat es dann freiwillig.
Jara schloss die Tür von außen zu, die schmalen Fenster des Turms waren vergittert. Meine Tante nahm direkt neben mir Platz, sodass sie Jake gegenüber saß und ich Luke. "Es ist schwer, jemandem gezielte Erinnerungen zu nehmen, deswegen muss man sich sehr gut konzentrieren und die richtigen Bahnen im Gehirn finden.", erklärte Mayra und ich realisierte das, was um mich geschah immer noch nicht. Das Einzige, was ich wusste, war, dass Luke litt, gerade vor mir saß und ich ihm nicht helfen konnte. "Luke?", murmelte ich und er sah mich an, ohne den Kopf zu heben. "Du wirst die Hinrichtung vergessen.", flüsterte ich und mir traten schon wieder Tränen in die Augen. Und mich wirst du vergessen, du wirst das alles hier einfach vergessen.
"Löse die Handschellen, Jake.", meinte Mayra und er tat es. Luke schlug nicht um sich, jedoch starrte er meine Tante hasserfüllt an und da war noch irgendetwas in seinem Blick, was ich nicht genau deuten konnte. Er bemühte sich, ruhig zu atmen und allein sein Anblick schnürte mir die Kehle zu. Dann sah er wieder mich an und seine Augen schimmerten feucht. Kein Wort verließ seinen Mund, aber ich wusste, was er mir sagen wollte. Du musst von hier weg.
"Ich brauche deine Hand.", damit unterbrach Mayra unseren Blickkontakt und Lukes Augen füllten sich wieder mit Hass und, dieses Mal erkannte ich das andere Gefühl, Zorn, blanker Zorn.

Luke sah mich erneut an. "Leg deine Hand auf den Tisch!" Gesagt, getan. Ich tat es ihm gleich, auch wenn es mit Handschellen deutlich schwerer war. Er verstand sofort und verschränkte seine Finger mit meinen. Mayra warf mir einen kritischen Seitenblick zu, ließ aber zu, dass wir uns festhielten. Sie ergriff seine freie Hand und Luke lächelte mir zu:"Ich dich auch, Rose."
Zuerst verstand ich nicht ganz, doch dann erinnerte ich mich an das Telefongespräch, damals im Wald, als ich die drei magischen Worte zu ihm gesagt hatte. Mayra drückte fester zu und Lukes Augen schlugen blitzartig auf und dann zu. Nein, brüllte mein Kopf. Er darf mich nicht vergessen, wir lieben uns.
Wenn ich gesprochen hätte, wüsste meine Tante, was ich vorhatte, also wiederholte ich die Worte immer wieder in meinem Kopf. Vergiss mich und die Nightmares nicht. Vergiss mich und die Nightmares nicht. Vergiss mich nicht..
Nach vielleicht einer Minute ließ meine Tante ihn los und sein Kopf zuckte unruhig, doch dann blinzelte er. Unsere Finger waren noch immer ineinander verschränkt. Bitte, bitte lass es nicht funktioniert haben, bitte!
Er sah erst Mayra an, dann Jake, mich und dann fiel sein Blick auf unsere Hände. Luke sah zu mir auf und hielt kurz den Blickkontakt, dann zog er seinen Arm zurück, seine Augen waren trüb, leer, er empfand nichts.
Ich sah ihn an, bis meine Sicht komplett verschwamm. Nein! Nein! Nein!

"Bring sie hier raus!" Jake packte mich am Arm und von außen wurde die Tür geöffnet. "Hör auf zu schreien, Melrose!", rief er mir entgegen, doch ich verstand ihn kaum und wusste nicht, was er von mir wollte.
Ich schrie doch gar nicht, ich war leer. Erst nach ein paar weiteren Schritten begriff ich, warum alles so laut dröhnte.
Es war meine Stimme, die durch die Flure hallte, meine Stimme übertönte alles um mich herum.
Und ich dachte, ich würde vor mich hinstarren, wie man sich täuschen konnte.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt