Teil 93

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Sie starrte mich an, bis sie dann langsam nickte und ihre warme Stimme wieder gefunden hatte:"Ein außergewöhnlicher Mann." "Kennen Sie ihn?", fragte ich und hätte die Worte gleich danach am liebsten wieder zurückgenommen. Mayra faltete ihre Hände auf dem Schoß zusammen und lächelte mich wie eine Porzellanpuppe an:"Das habe ich, bis er übergegangen ist und duze mich ruhig." "Übergegangen?", wiederholte ich und rutschte unruhig hin und her. Die Tatsache, dass alle wollten, dass ich sie duzte, ignorierte ich. "Ja, er hat sich den Menschen verschrieben. Er hat eine Gabe wie kein Anderer. Ich verstehe bis heute nicht, warum er sich beherrschen kann, obwohl er nicht von einer königlichen Familie abstammt." Ich verkniff mir das Kommentar, dass ich keine Kontrolle über mich hatte, und das obwohl ich zu der Herrschaftsfamilie gehörte. Ohne dass ich es wollte, musste ich an Luke und Zoe denken. Wie konnte es also schlecht sein, wenn ein Nightmare unter Menschen lebte? Steve arbeitete ganz normal, er hatte eine Familie und ein hohes Ansehen, also was war das Problem?

"Aber es ist doch nichts dabei, bei Menschen zu leben.", murmelte ich und sah durch den Raum, weil ich ihre Reaktion auf diese Behauptung nicht sehen wollte. Sie schnaubte abfällig:"Was? Nichts dabei? Wahrscheinlich denkst du nur so, weil du bei denen aufgewachsen bist, Melrose."
Das machte mich wütend, sie sprach hier gerade schlecht von meinen Adoptiveltern, die sich jahrelang mit mir durchgekämpft hatten. Sie sprach über Wendy, die sich in der neuen Schule um mich gekümmert hatte, sie sprach über Sarah, die ein kleines verwirrtes Mädchen ist und sie redete schlecht von Luke, der mir das Gefühl gegeben hatte, viel mehr wert zu sein, als alles andere auf dieser Welt. Ich zwang mich, ruhig zu atmen und versuchte dann gefasst zu antworten:"An Menschen gibt es nichts Schlechtes, sie sind genauso wie wir." "Genauso wie wir?", meine Tante wirkte belustigt, "Sie sind lange nicht so wie wir! Wenn wir wollten, könnten wir sie einfach durch eine winzige Berührung umbringen, das ist so erbärmlich." Jetzt riss mein Geduldsfaden:"Erbärmlich? Das Einzige was erbärmlich ist, ist zu urteilen, ohne jemanden zu kennen!"

Sie legte ihren Kopf schief und sah mich dann seltsam an:"Du bist wahrhaftig die Tochter meiner Schwester." Die ganze Wut wich aus mir und ich blinzelte, um nicht zu weinen. Sie hatte mich mit meiner Mutter verglichen. "Alisia, wo ist sie?", flüsterte ich fast. Meine Tante wandte den Blick ab, sodass ihre schwarzen Haare vor ihr Gesicht fielen und ich nicht sehen konnte, wie sie auf die Frage reagierte. "Ich weiß es nicht, Melrose. Ich wünschte, ich wüsste es." Alle Hoffnung in mir wurde durch diese paar Worte niedergemacht, selbst der letzte Funke. "Wo wurde sie zuletzt gesehen?", mein Kloß im Hals wurde immer dicker und es fühlte sich an, als würde irgendetwas durch meine Luftröhre nach oben dringen wollen. Mayra sah mich wieder an und ich sah, dass ihre Augen glänzten:"Hier im Wald, dann nie wieder." Alles um mich blieb stehen, ich nahm nichts mehr wahr, außer mein schnelles Herzklopfen. Es war so unglaublich still und ich keuchte die Worte mehr heraus, als zu sprechen:"Ist, ist sie tot?" Mayra schüttelte den Kopf, jedoch lief ihr jetzt auch eine einzelne Träne herab:"Nein, laut der Morgentanne nicht, aber für mich ist sie das schon lange."

Mein Magen verkrampfte sich und ich öffnete den Mund, doch es kam nur ein zitternder Atem heraus. Ich wischte die vereinzelten Tränen weg und sah dann wieder meine Tante an:"Wie ist das alles passiert? Wie konnte es überhaupt so weit kommen?" Sie atmete tief durch und fing dann an:"Es gibt auch unter Nightmares Rebellen, Melrose und es gibt viele, die gegen die königlichen Familien sind, weil sie somit selbst weiter unten stehen. Die Rebellen kämpfen für Gleichberechtigung, aber du kannst doch sicherlich verstehen, dass das in einer Spezies wie unserer nicht möglich ist, oder? Es muss Regeln geben, sonst würden wir einfach Menschen umbringen. Die begabten Nightmares, die also die Königlichen sind, würden andere Nightmares töten. Das ist ein schrecklicher Kreislauf und am Ende gewinnt doch niemand." Ich bekam eine Gänsehaut und nickte einfach nur stumm, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. "Die Rebellen haben uns vor Jahren angegriffen, als deine Mutter noch Königin war. Sie hatten es auf die komplette Familie Morgen und vor allem auf dich abgesehen, Melrose." Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken:"Warum wollten sie mich, ich war doch nur ein kleines Kind." "Du warst aber die Nachfolgerin von Alisia, was bedeutete, dass du irgendwann den Thron besteigen würdest und über alle anderen herrschst. Ich weiß nicht, was sie genau bezwecken wollten. Vielleicht wollten sie dich nur entführen und deine Mutter dann erpressen, vielleicht wollten sie uns alle auslöschen."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt