In der Pause kam Wendy direkt auf mich zu:"Was war denn das gerade?" Ich zuckte nur mit den Schultern:"Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst." Jetzt verzog sie ihre Augen zu winzigen Schlitzen:"Melrose Morgen, du sagst mir sofort, was los ist!" Ich umklammerte meine Tasche fester und mir war klar, dass ich jetzt wie das größte Miststück auf Erden klang, aber es ging nicht anders:"Das geht dich einen Scheißdreck an, Wendy. Du hast überhaupt keinen blassen Schimmer, was es heißt, ich zu sein, also komm mir jetzt nicht wieder damit, dass du da bist, wenn ich reden will, denn das werde ich nicht, weil wir viel zu verschieden sind." Jegliche Mimik fiel ihr aus dem Gesicht und sie starrte mich stumm an, dann machte sie ohne eine weitere Reaktion auf dem Absatz kehrt und stampfte davon. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen, immerhin wollte sie nur helfen, doch dann redete ich mir wieder ein, dass es so besser war, für beide. Mit ebenso schweren Schritten trampelte ich in die entgegengesetzte Richtung davon. Mir kam es gerade so vor, als würden mich alle anstarren, wie wenn ich im Rampenlicht auf einer riesigen Bühne stehen würde und jeder würde nur darauf warten, dass ich einen Fehler beging. Ich wünschte, der Vorhang würde einfach zufallen und ich wäre allein, einfach einen Moment durchatmen.
In den Gängen standen kaum Schüler und trotzdem fühlte ich mich beobachtet, sodass sich all meine Härchen zu Berge stellten. Überall verbargen sich Gesichter und ich dachte schon ich würde völlig durchdrehen, doch dann reichte es mir und ich eilte mit schnellen Schritten zur nächstbesten Tür, die nach draußen führte und zog mein Handy aus der Tasche und wählte Nellis Nummer. "Nein, ich habe nicht vergessen, dass ich dich abholen muss, ich wollte sogar gerade losfahren, um ja pünktlich da zu sein." "Das ist gut, denn ich bin fertig mit der Schule für heute, hol mich einfach so schnell wie möglich ab." Die Kälte fraß sich von außen, bis in mein Inneres, doch ich spürte kaum mehr als einen kühlen Windstoß. "Alles okay bei dir?" Schon wieder musste ich lachen und dieses Mal traten mir gleichzeitig auch noch Tränen in die Augen:"Könnte nicht besser sein." Damit legte ich auf und es wurde auch nicht nochmal zurückgerufen. Ich steckte mein Handy weg, zog meine Jacke über und starrte dann meine Hände an. Erst die Außenseite, danach drehte ich sie um, sodass ich meine Handflächen betrachten konnte. Das sind Hände eines Monsters. Die einzelnen Tränen, die sich um meine Augen gebildet hatten, liefen mir über die Wangen und ich atmete zitternd ein.
Die Klingel ertönte erneut und die vereinzelten Schüler, die weiter weg von mir geraucht hatten, gingen wieder in ihren Unterricht. Und zum ersten Mal konnte ich sie einfach nur ansehen und denken, dass sie Menschen sind. Sie sind nicht so wie ich, ich passe nicht hierher. Es fühlte sich auf einmal so verdammt falsch an, auf diesem Pausenhof zu stehen. Meine Beine trugen mich vom Schulgelände weg, einfach irgendeine Straße entlang und mir war egal, wohin sie führte, Hauptsache ich würde einen Ort für mich ganz allein finden. Ich irrte wie ein Kitz, das seine Mutter verloren hatte, allein durch den Wald und der Wind wurde immer stärker und meine Lippen bebten. Du gehörst einfach zu niemandem, Rose, du bist nicht erwünscht, hallte es durch meinen Kopf und ich hätte am liebsten darauf eingeschlagen, doch stattdessen schluckte ich die ganze Wut und den Frust herunter. "Fluffy!", drang von weit weg an mein Ohr und ich begann bitter zu lachen, jetzt drehte ich wirklich völlig durch. "Hast du meinen Hund gesehen?" Ich schrie kurz leise auf, als ich den strohblonden Haarschopf vor mir erblickte:"Sarah?" Das Mädchen aus der Praxis von Doktor Wilson runzelte die Stirn und lächelte dann:"Du heißt wie Blumen, du bist eine Rose." Ich öffnete den Mund, doch sie war schneller:"Hast du Fluffy gesehen? Ich vermisse ihn so!" Jetzt begann sie wie beim ersten Mal wieder zu weinen und ich ballte die Hände zu Fäusten:"Sarah, du musst nach Hause gehen, deinen Hund wirst du hier nicht finden." "Was?", sie begann noch mehr zu weinen und ich fragte mich wirklich, was mit ihr nicht stimmte.
Jetzt rannte sie auf mich zu und wollte ihre Arme um mich schlingen, doch ich schreckte zurück und kreischte:"Fass mich nicht an!" Für einen Moment sah sie mich verdutzt an, als wäre noch nie jemand vor ihrer Umarmung zurückgewichen. "Du bist so gemein!", sie zeigte drohend mit dem Finger auf mich und nun konnte ich mich nicht mehr halten. Die ganze angestaute Wut brach über mich herein, wie Wellen bei einem Unwetter:"Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Du bist von Zuhause abgehauen und suchst nach deinem dämlichen Hund, der schon vor langer Zeit gestorben ist!" "Fluffy ist nicht tot!", schrie sie zurück, was mich zum lachen brachte. "Oh natürlich ist er das! Dein Hund ist tot, weg, schlicht und einfach nicht mehr da! Genauso wie mein Vater, der ist nämlich auch tot! Und weißt du noch was, Sarah? Man verliert ständig Dinge, Menschen und Tiere, die man liebt, doch irgendwann ist es Zeit, loszulassen, also geh jetzt Heim und akzeptiere die Tatsache, dass Fluffy nie wieder bei dir sein wird!" Sie starrte mich an, sie starrte mich einfach mit leeren Augen an und antwortete dann mit der monotonsten Stimme, die ich je gehört hatte:"Fluffy ist tot." Und jetzt war mir erst klar, was ich eigentlich gerade getan hatte und wieder schossen Tränen in mir hoch und ich fuhr wesentlich ruhiger fort:"Ja, es tut mir leid. Geh nach Hause."
Ihre Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen:"Ohne Fluffy ist es kein Zuhause mehr." Diese Worte brachten mich noch mehr zum weinen, denn eigentlich waren wir uns gar nicht so unterschiedlich, wir waren beide auf der Suche und wussten nicht wohin. "Ich weiß.", flüsterte ich und zog Sarah an mich. Dabei achtete ich sorgfältig darauf, dass nur unsere Jacken sich berührten und ich hörte das leise Schluchzen, doch als wir uns voneinander lösten, musste ich feststellen, dass das gar nicht Sarah, sondern ich war, die vor sich hin wimmerte.
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Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?
ParanormalDieses Buch ist mittlerweile mehrfach überarbeitet worden & diese Fassung ist jetzt überall online als Taschenbuch erhältlich! Link dazu in meiner Bio! :) Melrose ist eigentlich ein ganz normales Mädchen, wenn man davon absieht, dass sie Menschen mi...