Teil 103

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Vor der Tür warteten die Zwillinge mit einem Mann und einer Frau, die beide ungefähr in Mayras Alter sein könnten. Jara trat einen Schritt nach vorne und stellte mir dann die Unbekannten vor:"Das sind unsere Eltern, Anna Morgen und Daniel Fieß." Sie lächelten mir beide aufrichtig zu und ich erwiderte es, obwohl mir nicht danach zumute war. "Es ist wirklich unglaublich, dich zu sehen, Melrose. Wir waren verreist und sind sofort zurück, als wir gehört haben, dass du aufgetaucht bist.", Anna betrachtete mich neugierig. "Es freut mich auch, Sie kennenzulernen.", gab ich wie automatisch von mir, ohne dass ich lange darüber nachdenken musste. Die Lügen kamen mir schon über die Lippen, wie Regentropfen vom Himmel, ständig und unberechenbar.

Daniel lächelte ein wenig scheu:"Du musst uns doch nicht siezen." Innerlich stöhnte ich auf, doch äußerlich verzog sich mein Mund zu einem Lächeln:"Okay."
Auf dem Weg zum Esszimmer wippten Annas kurzen Haare die ganze Zeit hin und her, während sie wild mit Nelli über irgendwelche Markenprodukte diskutierte, anscheinend waren sie beide Fachfrauen. "Gesuchtes gefunden?", Jake blieb stehen, um mit mir laufen zu können. "Weiß ich nicht so genau.", murmelte ich und starrte nach draußen; dieses Mal regnete es.

"Komm schon, ich hasse es, zu raten.", nörgelte er und ich seufzte. "Kennst du die Familie Brand?" Er sah weg und ich konnte nicht sehen wie er auf die Frage reagierte:"Ja, sehr mächtig, wieso?" "Ich glaube, jemand von den Brands hat Steve Wilson, einen Nightmare angegriffen.", flüsterte ich so leise wie möglich. "Was?", Jake lachte, doch er hatte mich verstanden, "Das ist doch Quatsch." "Ich habe mit ihm telefoniert, während es passiert ist. Er wäre fast erstickt und hat dann Anesthesia praesidium geschluckt." Jetzt blieb er stehen und riss mich an meinem Handgelenk zurück:"Aua!" Vor uns lachten die Anderen, sodass sie meinen Ausruf gar nicht gehört hatten. "Woher hat dieser Steve bitte so mächtige Kräuter?" "Weiß ich doch nicht!", zischte ich und rieb mir über meinen Arm. "Hast du mal mit ihm gesprochen?" "Er schläft noch.", ich blickte zu ihm auf. "Hatte er Probleme mit irgendwem?", Jake drängte mich in irgendein Nebenzimmer, um ungestört laut reden zu können. "Ich weiß es nicht.", wiederholte ich mich. Er machte ein nachdenkliches Gesicht, was mich nervös machte. "Warum sollten sie ihn umbringen wollen?", fragte ich vorsichtig. Jakes Miene wurde ernst:"Das ist nicht die richtige Frage, die richtige Frage lautet, warum er noch lebt. Wenn die Brands wollen, dass jemand stirbt, dann wird er sterben, außer es sind die Morgens, also wir. Wir sind stärker als sie. Bevor sie uns töten könnten, würden wir sie sich selbst umbringen lassen." "Sie wollten ihn also nur verletzen?", ich verstand gar nichts mehr. "Oder irgendjemand wusste, dass er das Kraut hat und wollte ihn für ein paar Tage ausschalten." "Wer sollte das tun und warum?", murmelte ich. "Jemand, der irgendein Problem mit ihm hat, ich weiß es nicht."

Es war still und ich dachte angestrengt nach. Steve hatte sich über eine längere Zeit seltsam benommen. Wusste er, was ihm bevorstand? Aber warum hatte er es dann nicht verhindert?
"Vielleicht wusste er etwas, das er nicht wissen sollte.", brach Jake die Stille. "Etwas, das die Brands gestört hat?" "Ja, fragt sich nur was.", er schüttelte den Kopf. Ich lehnte mich mit dem Kopf an die Wand und starrte an die Decke, als würden dort Antworten auf mich warten. Das wird alles nur noch komplizierter, als leichter. "Wir sollten zum Essen gehen, sie fragen sich bestimmt schon, wo wir abgeblieben sind.", meinte Jake und ich wusste, dass er recht hatte. "Wir sagen einfach, dass ich auf die Toilette musste." Er lachte leise auf, erwiderte darauf aber nichts weiter.
Keiner fragte, wo wir waren, lediglich Nelli warf mir von rechts einen fragenden Blick zu, doch ich ging nicht darauf ein. Dieses Mal fehlte meine Tante am Ende des Tisches und nur meine Großeltern, meine beste Freundin, Erik, die Zwillinge und ihre Eltern saßen da.
"Wo ist Mayra?", hörte ich mich selbst verwundert fragen. Jara war die Erste, die antwortete:"Sie isst alleine, das macht sie manchmal so." Erik stopfte sich gerade Salat in den Mund und kaute hastig:"Das ist nichts Besonderes, das ist ganz normal." "Ach so, verstehe.", aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es etwas mit dem Vorfall an der Tanne zu tun hatte.

Die Eltern der Zwillinge erzählten irgendetwas Uninteressantes von ihrer Reise und auch meine Großeltern unterhielten sich leise. Erik redete die ganze Zeit mit Nelli, die sich eigentlich mehr auf ihr Essen konzentrierte, als auf das, was er sagte.
Mit dem Nachtisch war ich als Erstes fertig, deswegen stand ich auch schon auf. In diesem Moment war mir egal, wie unhöflich das war. Ich wollte einfach keine weitere Sekunde so ruhig an diesem Tisch sitzen. "Wo finde ich Mayra?" Meine Großmutter nickte:"Sie dürfte in dem Lesezimmer sein, in dem du sie zum ersten Mal gesehen hast. Weißt du noch, wo das ist?" "Ja, das finde ich, danke.", ich spürte wieder alle Augen auf mir, deswegen ging ich noch schneller. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, konnte ich erst wieder richtig durchatmen. Es war seltsam alleine durch die Gänge des Schlosses zu laufen. Ich musste so oder so erst nochmal in den vierten Stock, um meine Tasche zu holen und das tat ich dann auch.
Draußen herrschte ein gewaltiges Unwetter und der Regen prasselte heftig gegen die Scheiben und ich fragte mich, warum Mayra es ausgerechnet jetzt regnen ließ. Ich holte meine Tasche aus dem Gemach und sah nochmal nach, ob die Briefumschläge mit meinen Initialen da waren und sie steckten sicher befestigt darin. Dann lief ich zügig wieder nach unten und erschreckte mich, als die Lichter über mir angingen. Anscheinend gab es Bewegungsmelder und da es bei diesem Wetter unglaublich düster und trüb war, wurden sie angeschaltet. Ich holte nochmals tief Luft, bevor ich mit ein wenig zitternder Hand an die Tür klopfte. Irgendetwas huschte durch den Raum, zumindest hörte es sich so an. Nach noch ein paar Sekunden antwortete meine Tante:"Ja?" Ich öffnete die Tür und gab ihr dann einen leichten Stoß. "Melrose, setz dich doch.", sie saß mit angezogenen Beinen auf einem Sofa und ich beobachtete erst die Tür, die viel zu langsam ins Schloss fiel, dann drehte ich mich zu ihr um.
"Ich habe noch Fragen."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt