Teil 106

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Ich stand wieder in dem Tunnel. Es war stickig und roch so, als hätte irgendetwas angefangen zu schimmeln. Mit einer Hand hielt ich mir die Nase zu, mit der anderen tastete ich mich in dem schwachen Licht der Glühbirnen langsam an der Wand voran. Wieder hörte ich etwas tropfen, aber konnte nicht genau orten, wo das Geräusch herkam. Manchmal führten rechts und links von mir Abzweigungen ab, allerdings konnte ich nirgends einen Anfang oder ein Ende ausmachen. Ich steckte in einem riesigen Tunnelsystem fest. Plötzlich vernahm ich Schritte, die sich mir näherten und instinktiv versteckte ich mich im Schatten einer Abzweigung, gerade noch rechtzeitig, bevor zwei Männer näher kamen:"Ich fasse es einfach immer noch nicht." Der eine Mann grunzte:"Du musst es auch nicht kapieren, es reicht, wenn wir gut bezahlt werden und das werden wir doch, nicht wahr?" Sie liefen an der Abzweigung vorbei und für einen kurzen Moment konnte ich einen Blick auf die beiden erhaschen. Das waren Wachen. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter und ich stolperte ein paar Schritte rückwärts. Das ist ein Traum, versuchte ich mich zu erinnern, doch es fühlte sich so unglaublich echt an.

"Wir werden für Nichts tun bezahlt.", sagte der Erste wieder. Die Stimmen hallten weiterhin durch den Tunnel, doch ich verstand die einzelnen Worte nicht mehr. Ich streckte den Kopf hervor, aber sah nur noch wage Umrisse der beiden. Vielleicht liefen sie auf den Ausgang zu. Ich beschleunigte mein Tempo, doch plötzlich schüttelte mich etwas mitten in der Bewegung und ich schlug die Augen auf.
Der Traum war zu Ende und ich wusste wieder nichts Neues.
Blonde Haare waren direkt vor meinem Gesicht und für einen Moment dachte ich, dass ich daheim bei meinen Adoptiveltern läge, doch dann wurde alles klarer und mir fiel wieder ein, wo ich war. Ich musste heftig schlucken und rutschte dann im Sessel hin und her. Nelli beobachtete mich die ganze Zeit und wich nicht von meiner Seite. "Ich bin dir draußen nachgerannt, aber du warst viel zu schnell weg.", sie sah mich immer noch mit ausdrucksloser Miene an. "Ich-", mehr bekam ich nicht heraus. "Jake ist mir entgegen gekommen, was ist denn passiert, Melrose?" Ein Knoten bildete sich in meinem Hals, als ich an Luke und auch an Amalia dachte:"Wo ist er jetzt?" Meine beste Freundin sah mich kritisch an:"Bei Jara, du hast nicht lange geschlafen, wahrscheinlich kümmert sie sich noch um ihn, er sah nicht gut aus." Ich erwartete schon eine Bemerkung zu meinem Erscheinungsbild, aber die kam nicht. "Das ist gut.", murmelte ich. "Hast du getrunken?", sie rümpfte die Nase. "Nicht ich, Jake."

"Und was zur Hölle ist jetzt passiert, dass du wie ein Geistesgestörter ohne Jacke in den strömenden Regen rennst und alles um dich herum ignorierst? Ich habe mit dir geredet und du hast mich nicht einmal wahrgenommen!" "Tut mir leid.", murmelte ich. "Jetzt spuck es endlich aus! Nur weil ich keine Morgen bin, erfahre ich immer als Letzte, was eigentlich abgeht. Das ist doch scheiße!" Ich lächelte leicht, auch wenn es mich wirklich anstrengte:"Darüber machst du dir Sorgen?" "Verdammt ja, und jetzt sag doch endlich, was passiert ist. Rose, ich mache mir Sorgen." Ich sah zu der Teetasse, die jetzt seltsamerweise auf dem Boden stand; wie sie dahin gekommen war, wusste ich nicht. "Ich bleibe im Schloss." Ihr klappte die Kinnlade nach unten:"Das war es? Deswegen der große Zusammenbruch?" "Nein", ich sah sie an, bis sie meinen Blick erwiderte, "Mayra wird dafür sorgen, dass sie mich alle vergessen." "Was?", Nelli kniete sich neben meinen Sessel. Ich versuchte zu lächeln, doch die Tränen waren schneller und das Gesicht meiner besten Freundin verschwamm ein wenig:"Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben, für alle. Sie werden mich alle vergessen, Nelli. Meine Adoptiveltern, Wendy, Jana, Noel, Sarah, Rosemarie, Leo, Flo, Anna, Zoe und Luke, sie würden mich nicht wiedererkennen." Mittlerweile schluchzte ich, doch das Lächeln war wie eingebrannt. Nelli sagte nichts, sie nahm mich einfach in den Arm und drückte mich an sich. "Ich bin doch da, es kann nichts passieren."
Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das sich wegen einer Wunde bei seiner Mutter ausheulte. Ich war die Erste, die losließ und dann lachte ich unter Tränen:"Es tut mir leid."

Sie runzelte die Stirn:"Was?" Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen:"Du wolltest mich doch nicht mehr so sehen." Nelli verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln:"Das ist eine Ausnahme." "Okay.", ich zog die Decke wieder weiter nach oben, meine Augen brannten. "Und was hatte jetzt Jake für ein Problem?" Bei dieser Frage zuckte ich unwillkürlich zusammen. Das Bild von einem jüngeren Jake, der während einer Hinrichtung seiner Freundin beim Sterben zusah, blitzte vor meinem inneren Auge auf, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ich schüttelte den Kopf:"Das ist seine Sache." Nelli seufzte und ließ sich rückwärts in den Sessel neben mir fallen:"Ihr Morgens könnt echt nervtötend sein." Ich nippte an der Tasse Tee, er war noch lauwarm. "Denkst du, es ist das Richtige zu bleiben?", fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort:"Ich denke schon. Für dich ist es das Beste bei deiner richtigen Familie zu sein." Ich nickte, auch wenn sich in mir wieder alles zusammenzog.
"Ich habe mich von ihm verabschiedet.", flüsterte ich mehr zu mir selbst. "Das ist gut." "Das tat weh, das tut es immer noch.", ich starrte wieder in das Feuer vor mir. "Es ist besser so, glaub mir. Wenn du ihn verletzt hättest oder sogar getö-" "Sprich es nicht aus!", schrie ich. Nelli holte hörbar Luft:"Was ich sagen wollte ist, du hättest dir nie verziehen, wenn ihm etwas wegen dir zugestoßen wäre, nicht wahr?" Ich schluckte:"Ja." "Na siehst du, alles richtig gemacht." "Warum fühlt es sich dann so falsch an?", fragte ich und schaute auf. "Weil wir mit dem Herzen stärker fühlen, als dass wir mit dem Verstand denken."

Ich lachte leise auf:"Da hast du recht." "Das habe ich immer, Süße.", Nelli griff nach einer weiteren Teetasse, die zwischen uns stand, "Ich darf doch, oder?" Ich nickte und schloss die Augen:"Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe."
Meine beste Freundin setzte die Tasse ab und hätte sich beinahe verschluckt, weshalb sie husten musste:"Du hast was?" "Er wird es sowieso vergessen.", sagte ich schnell. Nelli blickte mich für ein paar Sekunden stumm an:"Du liebst ihn." Es war keine Frage, trotzdem antwortete ich:"Ja, ich glaube schon." "Du kennst ihn doch kaum!" "Du liebst Tobias auch, obwohl ich darauf wetten könnte, dass du jetzt gerade keinen blassen Schimmer hast, wo er ist." "Das mit mir und Tobias ist anders. Ich mag ihn, aber lieben ist so ein starkes Wort." Ich riss die Augen auf:"Du liebst ihn nicht?" "Bei uns ist es immer etwas locker, das weißt du doch." "Weiß er das auch?" Nelli stöhnte:"Kümmer dich doch bitte erstmal um deine Angelegenheiten, dann können wir meine klären." Ich lachte auf:"Meine Entscheidung ist längst gefallen. Ich bleibe hier, also habe ich genug Zeit, um dir mit deinen Angelegenheiten zu helfen."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt