Teil 19

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Jetzt rannte ich los, mein Hals schmerzte schon nach kurzer Strecke, jedoch änderte ich mein Tempo nicht. Das Mädchen machte mir Angst.
Als ich endlich den Rand des Waldes erreichte, war jedoch nirgends unser Haus zu sehen. Ich drehte mich um, Sarah war mir nicht gefolgt und auch sonst war keiner zu sehen, aber das beruhigte mich nicht, denn ich hatte sie vorher ja auch nicht entdeckt.
Weit und breit sah ich nur Wiesen und Felder, aber auf keinen Fall würde ich zurück in den Wald gehen. Eine ganze Weile lief ich nur über Grün, wobei ich mich immer wieder panisch umdrehte. Nach ungefähr einer halben Stunde erreichte ich einen Weg und darüber war ich auch ziemlich froh. Nur in welche Richtung jetzt?
Ich entschied mich für rechts, was sich dann auch zum Glück als der richtige Weg erwies. Ich wusste zwar immer noch nicht wo ich war, aber der Ort stimmte schon mal. Warum hatte ich nur kein Handy mitgenommen?
Es dämmerte schon langsam und ich überlegte, wie ich meine Abwesenheit meinen Adoptiveltern erklären sollte. Ich musste mir nur eben kurz die Beine vertreten? Ich habe alle meine Freunde verloren und brauchte Ablenkung? Wohl nicht die beste Variante. Ich schüttelte den Kopf, ich konnte mich jetzt nicht auf sowas konzentrieren, zuerst musste ich überhaupt mal nach Hause kommen.
Ich sah einen älteren Mann, der anscheinend gerade spazierte und lief schnell neben ihn: "Entschuldigung?"
Er blieb stehen und schaute mich an: "Kannst du etwas lauter sprechen, Liebes, ich habe mein Hörgerät vergessen."
"Wissen Sie, wo die Bernsteinstraße ist?", sagte ich nun deutlich lauter.
"Die was?"
"Bernsteinstraße."
"Oh, Liebes, da musst du aber noch weit laufen", rief er.
"Und wo lang?"
Er sah sich um: "Lauf einfach immer geradeaus, bis du zur Hauptstraße gelangst, dann immer rechts und dann links."
Das war zwar keine sehr genaue Angabe, aber ich glaubte, der Mann war so glücklich mir zu helfen, also fragte ich nicht weiter nach: "Danke, sehr nett." Er nickte und setzte seinen Weg fort, wobei ich ihn überholte und dann weiter geradeaus lief. Die Straßenlaternen gingen schon an und erst jetzt wurde mir bewusst, wie weit ich überhaupt gerannt war. Ich erreichte die Hauptstraße und bog dann rechts ab, wie der Mann beschrieben hatte, und die Gegend kam mir hier schon wesentlich bekannter vor. Ich verließ mich einfach auf mein Gefühl, und als ich meine Bushaltestelle sah, atmete ich erleichtert aus, es war nicht mehr weit. Schon aus der Entfernung sah ich unser Haus. Die Einfahrt war leer und es brannte kein Licht.
"Hallo?", brüllte ich, als ich die Tür geöffnet hatte, doch keiner antwortete. Ich zog mich um und ging dann ins Wohnzimmer, um fernzusehen und genau in diesem Moment wurde die Tür aufgeschlossen. Ich spannte mich automatisch an, denn ich hörte schon, dass es mein Adoptivvater war. Er legte seine Sachen ab und trat dann in mein Blickfeld. Ich sah ihn ausdruckslos an.
"Du bist ja immer noch hier", er verengte die Augen zu Schlitzen. Meine Miene veränderte sich kein bisschen und ich widmete jetzt der Serie, die gerade lief, meine volle Aufmerksamkeit. Er trat vor den Fernseher: "Ich rede mit dir!"
"Ich aber nicht mit dir." Warum sollte ich vor ihm Angst haben? Immerhin trug er keinen Schutzanzug. Er kam ein Stück näher.
Ich blickte zu ihm hoch: "Sicher, dass du das tun willst?" Er funkelte mich böse an, dann drehte er sich um und verschwand aus meinem Blickfeld. Schon ein wenig später wurde die Haustür erneut geöffnet und dieses Mal war ich glücklich darüber.
"Hallo Melrose, ich habe etwas vom Chinesen dabei", sie grinste mich an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich heute nur gefrühstückt hatte.
"Finde ich gut."
Sie trug die Taschen zum Esstisch: "Wie war die neue Schule?" Ach, ich habe nur meine beste Freundin verloren und der einzige Junge, der mit mir gesprochen hat, hat jetzt die Schnauze voll von mir. Monster.
Ich rang mir ein Lächeln ab: "Ganz gut."
"Das freut mich wirklich sehr."
"Soll ich dir beim Decken helfen?"
"Das geht schon, keine Sorge." Wie hätte ich sie nur in dem Glauben lassen können, ich sei tot?
Nachdem das Essen auf dem Tisch stand, rief sie meinen Vater. Ich stürzte mich auf meine Portion, als ob ich seit Tagen nichts mehr gegessen hätte.
"Wie sind deine Mitschüler so?", meine Mutter lächelte.
"Alle nett", murmelte ich zwischen vollem Mund hervor.
"Und, hast du auch schon welche angegriffen?", mein Adoptivvater sah mich an. Ich hielt inne, starrte auf mein Essen und auch meine Mutter stocherte nur noch lustlos darin herum. Jetzt sagte keiner mehr etwas und ich aß so schnell wie möglich, um nicht länger mit diesem Alptraum von Vater an einem Tisch sitzen zu müssen.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt